Heft 
(1993) 56
Seite
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Angstzuständen (Frau Stirling), wobei die Wirkung der Musik Wagners und derkurze Blick" des Doktors sich in ihrer Wirkung ergänzen (482).In dem ganzen Damenkreise raschelte nicht eine Kleiderfalte. Alte und Junge blickten atemlos auf den Arzt. Mehrere hielten die Hände so, als ob eine Gebärde der Anbetung oder der Beschwörung auf halbem Wege erstarrt sei, und Fräulein Rothe saß mit einem blöden Lächeln da." (482 f.) Was zunächst Verstummen vor der Musik Wagners war, das verwandelt sich nun - pervertierend - in die Anbetung des 'Künstlers' Bieber. - Es wäre zweifellos reizvoll, an diesem Punkt einen vergleichenden Exkurs mit der Wagner-Thematik in Thomas Manns Novelle Tristan einzufügen, indes muß ich aus Gründen des Themas dieses Bei­trages der Verlockung widerstehen.

Der Kreis der Herren ist gegenüber solch massiver gefühlsmäßiger Manipula­tionen eher skeptisch eingestellt. Der Sanatoriumsgast mit dem dissonanten Namen Sägemüller ist der offene Gegenspieler des Doktor Bieber, dem dessen Künste suspekt sind und der sie bloßstellen will. Auf die Vergötzung Biebers durch die Damen repliziert er mit einem ironisch-desillusionierendenMir scheint, er verschwindet hinter einer Weihrauchwolke" (483), was Stirling mit einem herzhaften Gelächter kommentiert.

Mit der Begründung von Sägemüllers Aufenthalt im Sanatorium blendet Hein­rich Mann ein weiteres Element der als problematisch erfahrenen Zeitwirklich­keit des Menschen der neunziger Jahre ein: Das Erlebnis der Großstadt, die Entwicklung der Technik mit allen ihren Folgeerscheinungen machen den modernen Menschen krank, machen ihm das Leben zur Qual. Deshalb ist für den seelisch-zivilisationsgeschädigten Sägemüller das Sanatorium der Fluchtort vor der ihn bedrängenden technisierten Wirklichkeit. (479) - Nicht nur an der angeführten Stelle, sondern überall in der Erzählung tritt Sägemül­ler als Störenfried der Sanatoriumsatmosphäre, als advocatus diaboli, auf. Er ist als Kontrahent Biebers konzipiert, der diesen mit seinen fragwürdigen Machenschaften blamieren und zu Fall bringen will. Sägemüller ist auch derje­nige, der die Radtour inszeniert, an deren Ende die Bloßstellung Biebers steht. Mit Sägemüllers Verhalten und Handeln schlägt die Gesellschaftsdarstellung um in Satire. Er greift Biebers, des Apologeten des Willens, makabre, leise Schauer" (484) erregende Theorie an von demabsolut reinen Willen", der "jedem großen Kunstwerk zugrunde liegt" und nur für kurze Augenblicke "unser Fleisch durchleuchte[t]" (ebd.) und stellt ihm die Falle, in die dieser hin­einläuft. Nach demTodesritt"(493) auf dem Fahrrad ist der zum Wunderdok­tor stilisierte Arzt, der mit seinem Willen glaubt Steine versetzen zu können, ein bemitleidenswerter, hilfloser Mensch, der auf einem Schubkarren anstatt eines standesgemäßen Wagens ins Sanatorium zurücktransportiert werden mu ß. Der schmähliche Rücktransport des Doktor Bieber nach dem Debakel - "ein grimmes Satyrspiel" 24 - formiert sich gleichsam als Trauerzug, wobei die 'Trauernden'(500) teils von Schadenfreude, teils vom Mitleid bestimmt sind. Denn das Verhalten der Figuren in der Erzählung wird durch die Satire nicht verändert, sie richtet sich allein auf das Bewußtsein der Leser. Der Sturz Bie­bers ist zugleich auch der Sturz und die Kapitulation suspekter Strömungen der zeitgenössischen Wirklichkeit, die satirisch hingerichtet werden: des frag­würdigen Okkultismusglaubens, der seichten und veräußerlichten Rezeption