Heft 
(1993) 56
Seite
42
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der Willensphilosophie Schopenhauers um die Jahrhundertwende, des Wag­nerkultes, der nervösen Empfindsamkeit der Zeitgenossen und manches mehr. Der letzte Satz Biebers lautet:War es [das Unglück] denn zu vermeiden? Man hat doch seine Rolle." Diese Bemerkung gibt Auskunft über das Selbstver­ständnis des Menschen in Manns Erzählung und leitet unsere Ausführungen wieder zurück zu dem Verhältnis von Heinrich Manns zu Fontanes Kunst. Die Rolle, die Bieber in der Sanatoriumsgesellschaft spielt, ist nicht seine Wahl, nicht seine freie Entscheidung. Sie wird ihm vielmehr von der Gesellschaft auf­gezwungen, und er muß sie spielen bis zum Ende, diktiert zunächst von der Gesellschaft seines Wirkungskreises im Sanatorium, sodann im weiteren Sinne von den gesellschaftlichen, geschichtlichen, politischen und kulturellen Kräften insgesamt, in deren Wirkungsfeld der Mensch lebt. So wie bei Fontane die Figuren in ihrem Sein von der Gesellschaft determiniert erscheinen, so ist auch Biebers Sein und Verhalten die Folge gesellschaftlicher Determination. Gemäß einer Perspektiventechnik, wie sie schon Fontane perfekt anwandte, wird er nur durch die Außensicht anderer Figuren konturiert, und aus den verschiede­nen Einschätzungen seiner Person durch die übrigen Figuren der Erzählung setzt sich der Leser sein Bild mosaikartig zusammen. Das gilt auch für die Figurenkonzeption der anderen Personen und selbst dort, wo der Erzähler berichtend und bewertend eingreift, dominiert die Außenperspektive. Gemeint sind hier in erster Linie jene Teile des Textes, an denen der Erzähler neue Figu­ren durch ein Kurzporträt einführt - eine Erzähltechnik also, die wir in ähnli­cher Form bei Fontane antreffen, vornehmlich in seinen ersten Romanen Vor dem Sturm und L'Adultera. - Einzig bei Sägemüller beobachten wir in den Schlußpartien der Erzählung reflektierende Passagen, die teilweise sein Innen­leben offenbaren. So nahe Heinrich Mann mit den Prinzipien der Figurenkon­zeption und der Relation der Figuren zur Gesellschaft dem Figurenentwurf Fontanes steht, so weit entfernt er sich durch die den Figuren eingeschriebenen thematischen Aspekte und deren satirischer Brechung von Fontane.

Welche Sicht auf die Gesellschaft vermittelt der Erzähler und damit Heinrich Mann dem Leser? Der Hinweis auf die satirische Darstellung bestimmter Aspekte weist die Richtung. Die Einstellung des Erzählers der erzählten Welt gegenüber ist distanziert, ja ironisch. Die Sanatoriumsgesellschaft wird kri- tisch-abwertend beurteilt und lächerlich gemacht. Der Erzähler mokiert sich mehr oder weniger deutlich über die Damenwelt, die sich in diesem besonde­ren Bereich der Gesellschaft trifft, der Damen, deren 'Krankheit' eher das Lei­den an der Langeweile, am ennuye der Fin-de-siecle-Stimmung am Jahrhun­dertende, und weniger ein physisch-psychisches Krankheitssymptom ist. An der nervös-gereizten Stimmung hat teilweise auch Sägemüller teil, den Mann als kritische Sonde in diese Gesellschaft einführt.

Vor und zwischen dem skizzierten Novellenentwurf von 1888 und der Erzäh­lung Doktor Biebers Versuchung vom 1898 sind verschiedene andere Erzähltexte Manns anzutreffen, die die Kennzeichen des an den beiden Texten aufgezeig­ten Erzählkonzeptes ebenfalls mehr oder weniger deutlich aufweisen: Eine alte Jungfer als frühes Dokument 25 zeigt teilweise schon die Strukturen der Gesell­schaftsszene; in anderer Weise treffen wir Heinrich Manns Versuche sozialer Erzählkunst in Eine Erinnerung (1894), Ist sie's (1894) 26 und Eine wohltätige Frau