(1896) an. An dieser Stelle sei ergänzend kurz auf Eine Erinnerung eingegangen. Obwohl Eine Erinnerung typologisch der Erinnerungsnovelle 27 zuzuordnen ist, beobachten wir hier Erzählstrukturen, die ebenfalls als typisch für die Gesellschaftsnovelle reklamiert werden können. Der Gegenstand der Erzählung ist bis zu einem gewissen Grade in der zeitgenössischen Gesellschaft aktuell und öffentlich; die 'Gesellschaft' verbreitet Gerüchte hinter vorgehaltener Hand über das Verhältnis Herrn v. Dillstedts zu Gabriele. Der Zuhörerkreis von v. Dillstedts Erzählung verkörpert die Gesellschaft im kleinen, und Dillstedt erzählt seine Geschichte vornehmlich, um sich vor der Gesellschaft zu recht- fertigen und in einem bestimmten Licht dazustehen. Das gesellschaftliche Moment der Erzählkunst Manns wird demnach darin sichtbar, daß von der Gesellschaft vor der Gesellschaft und im Hinblick auf die Gesellschaft erzählt.
Alfred Kantorowicz teilt in seiner zweibändigen Ausgabe von 1953 die Novellen Manns vorwiegend nach stofflichen Kriterien ein: Italienische Novellen, Historische Novellen, Kunst und Leben usw. Unter „Gesellschaftskritischen Novellen" versteht er besonders die späteren, ab 1924 publizierten Novellen Manns. 28 Die frühen Erzählungen bleiben dabei außer Betracht. Uns geht es darum, unter historischem Aspekt die Anfänge der Gesellschaftsnovelle bei Heinrich Mann aufzusuchen, ihre möglichen Vorgänger in der literarischen Tradition namhaft zu machen und die frühen Erzählungen in den Kontext der deutschen Literaturgeschichte einzubetten. Eine weitere Aufgabe wäre es, die Entwicklungslinie auszuziehen von den frühen Novellen Manns zu den späteren gesellschaftskritischen Erzählungen und Romanen.
Was ist konstitutiv für die „Gesellschaftsnovelle", wie sie hier bei Heinrich Mann zu analysieren versucht wurde, und wo sind mögliche Einflüsse Fontanes greifbar? Der junge Heinrich Mann hat mit verschiedenen novellistischen Erzählkonzepten, die teils in der Tradition vor ihm existent waren, teils von ihm selbst konzipiert wurden, experimentiert. Ein Typus ist die von mir so genannte Gesellschaftsnovelle. Der Terminus verweist zunächst auf einen stofflichen Befund: Gegenstand des Erzählens ist die Gesellschaft und zwar die zeitgenössische. Darüber hinaus wird der Begriff auch formtypo- logisch verwendet. Er bezeichnet dann Gestaltungsformen, wie sie im einzelnen nachgewiesen wurden: die dialogisierte Gesellschaftsszene (Gespräch als Meinungsaustausch, Diskussion oder Streitgespräch) mit einer ausgeprägten Perspektiventechnik, eine bestimmte Figurengestaltung (die Figuren denken und handeln gesellschaftsbezogen; ihr gesellschaftliches Sein tritt vorrangig in Erscheinung), die Bevorzugung bestimmter Gesprächsanlässe (beim Diner, im Salon, im Gasthof etc.) und die Tendenz zum Erzählen in die Breite bei kurzer erzählter Zeit unter weitgehendem Verzicht auf eine spannende Handlung. Die Einstellung zu der Gesellschaft, wie sie Heinrich Mann schildert, ist kritischsatirisch (mit den Mitteln der Übertreibung und Verzerrung), nicht realistischdokumentierend. 29
Heinrich Mann war nicht der erste in der deutschen Literatur, der Gesellschaftsnovellen schrieb. Die Gesellschaftsnovelle gilt allgemein als eine Erfindung der Vertreter des Jungen Deutschland und seiner Nachfolger. Gutzkow, Mundt, Kühne und Laube sind hier in erster Linie zu nennen. Es ist freilich