Heft 
(1993) 56
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nicht zu übersehen, daß die jungdeutsche Gesellschaftsnovelle von anderer Beschaffenheit und Intention war, als diejenige Heinrich Manns. Obwohl Hein­rich Mann einige der jungdeutschen Autoren flüchtig kannte 30 , wird man den­noch folgern dürfen, daß er die entsprechenden Anregungen für die Konzepti­on seiner Gesellschaftsnovellen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus dem Kreis der Jungdeutschen, sondern von Theodor Fontane empfangen haben wird.

Faktisch lassen sich mehrere Verbindungslinien zwischen Manns frühen Novel­len und dem epischen Werk Fontanes ziehen. Nun hat aber Fontane nicht Gesellschaftsnovellen in der Art Heinrich Manns verfaßt, sondern Romane bzw. längere Erzählungen. Man wird deshalb nicht unbedingt das eine Werk Fontanes mit einer bestimmten Erzählung Manns vergleichen können, viel­mehr sind die Affinitäten und Verwandtschaften zwischen dem Werk beider Dichter in den Erzählprinzipien und Grundstrukturen ihrer Prosa zu erkennen. Die Forschung hat hinlänglich bestimmte Kennzeichen der Romankunst Fonta­nes herausgearbeitet, so daß hier auf weitläufige Interpretationen und Nach­weise verzichtet werden kann: Die Bedeutung des Gesprächs mit der Perspek­tiventechnik, die Form der Figurengestaltung, die Schwächung der Handlung zugunsten der Ausführlichkeit der Gesellschaftsbilder usw. Sie alle finden ihre Entsprechungen in den Gesellschaftsnovellen Heinrich Manns, was sicher kein Zufall ist. - Als kompositorische Einzelheit sei noch auf das auch bei Mann begegnende Nachgespräch hingewiesen: Nachdem von Dillstedt in Eine Erinnerung" die Geschichte seiner Beziehung zu Gabriele erzählt hat, unterhält er sich anschließend unter vier Augen mit dem Ich- Erzähler über einige Einzelheiten und trägt den Schluß der Ereignisse nach (108 ff.). Bei Fontane freilich dient das Nachgespräch weniger der Fortsetzung des vorherigen Geschehens als vielmehr der Reflexion und Meinungskundgabe über die zuvor geschilderten Begebenheiten und Personen.

Ebenso wichtig, wie das Verbindende zwischen Mann und Fontane zu sehen, ist es aber auch, das Unterscheidende, Trennende und das, was bei Mann über Fontane hinausführt, zu kennzeichnen. Heinrich Mann hat selbst bemerkt, daß Fontanes Erzählkunst intendiert, die Dinge in ihrem Sosein in der Wirklichkeit festzuhalten und wiederzugeben.Er konstatiert nur: So ist es, und wie die Sachen liegen, muß es so sein." 31 Was Mann an Fontane vermißt, ist offenbar ein Positives, das über das Triste der Alltagswirklichkeit hinausweist. So rich­tig im einzelnen diese Einschätzung Manns sein mag, trifft sie Fontanes Erzähl­intention nur zum Teil. Denn Fontane war ganz gewiß kein platter 'Realist' im Sinne einer vordergründigen Wirklichkeitsabbildung. Er war vielmehr darum bemüht, die Wirklichkeit zu verwandeln, sie unter einer bestimmten Perspekti­ve zu sehen, sie zu verklären. 32 Anstelle der Verklärung der Wirklichkeit bei Fontane praktiziert Heinrich Mann verstärkt und vordergründiger als Fon­tane Gesellschaftskritik, die, wie wir gesehen haben, zur Satire ausgeweitet wird. Gesellschaftskritische Akzente beobachten wir besonders auch im Spät­werk Fontanes, doch wird diese nur begrenzt zur Satire gesteigert, während wir bei Mann gerade darin ein zentrales Gestaltungsprinzip erblicken. In die­sem Punkt geht Mann über das Erzählkonzept Fontanes einen wichtigen Schritt hinaus. Überblickt man sein weiteres literarisches Werk, so zeigt sich,

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