nicht zu übersehen, daß die jungdeutsche Gesellschaftsnovelle von anderer Beschaffenheit und Intention war, als diejenige Heinrich Manns. Obwohl Heinrich Mann einige der jungdeutschen Autoren flüchtig kannte 30 , wird man dennoch folgern dürfen, daß er die entsprechenden Anregungen für die Konzeption seiner Gesellschaftsnovellen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus dem Kreis der Jungdeutschen, sondern von Theodor Fontane empfangen haben wird.
Faktisch lassen sich mehrere Verbindungslinien zwischen Manns frühen Novellen und dem epischen Werk Fontanes ziehen. Nun hat aber Fontane nicht Gesellschaftsnovellen in der Art Heinrich Manns verfaßt, sondern Romane bzw. längere Erzählungen. Man wird deshalb nicht unbedingt das eine Werk Fontanes mit einer bestimmten Erzählung Manns vergleichen können, vielmehr sind die Affinitäten und Verwandtschaften zwischen dem Werk beider Dichter in den Erzählprinzipien und Grundstrukturen ihrer Prosa zu erkennen. Die Forschung hat hinlänglich bestimmte Kennzeichen der Romankunst Fontanes herausgearbeitet, so daß hier auf weitläufige Interpretationen und Nachweise verzichtet werden kann: Die Bedeutung des Gesprächs mit der Perspektiventechnik, die Form der Figurengestaltung, die Schwächung der Handlung zugunsten der Ausführlichkeit der Gesellschaftsbilder usw. Sie alle finden ihre Entsprechungen in den Gesellschaftsnovellen Heinrich Manns, was sicher kein Zufall ist. - Als kompositorische Einzelheit sei noch auf das auch bei Mann begegnende Nachgespräch hingewiesen: Nachdem von Dillstedt in „Eine Erinnerung" die Geschichte seiner Beziehung zu Gabriele erzählt hat, unterhält er sich anschließend unter vier Augen mit dem Ich- Erzähler über einige Einzelheiten und trägt den Schluß der Ereignisse nach (108 ff.). Bei Fontane freilich dient das Nachgespräch weniger der Fortsetzung des vorherigen Geschehens als vielmehr der Reflexion und Meinungskundgabe über die zuvor geschilderten Begebenheiten und Personen.
Ebenso wichtig, wie das Verbindende zwischen Mann und Fontane zu sehen, ist es aber auch, das Unterscheidende, Trennende und das, was bei Mann über Fontane hinausführt, zu kennzeichnen. Heinrich Mann hat selbst bemerkt, daß Fontanes Erzählkunst intendiert, die Dinge in ihrem Sosein in der Wirklichkeit festzuhalten und wiederzugeben. „Er konstatiert nur: So ist es, und wie die Sachen liegen, muß es so sein." 31 Was Mann an Fontane vermißt, ist offenbar ein Positives, das über das Triste der Alltagswirklichkeit hinausweist. So richtig im einzelnen diese Einschätzung Manns sein mag, trifft sie Fontanes Erzählintention nur zum Teil. Denn Fontane war ganz gewiß kein platter 'Realist' im Sinne einer vordergründigen Wirklichkeitsabbildung. Er war vielmehr darum bemüht, die Wirklichkeit zu verwandeln, sie unter einer bestimmten Perspektive zu sehen, sie zu verklären. 32 Anstelle der Verklärung der Wirklichkeit bei Fontane praktiziert Heinrich Mann verstärkt und vordergründiger als Fontane Gesellschaftskritik, die, wie wir gesehen haben, zur Satire ausgeweitet wird. Gesellschaftskritische Akzente beobachten wir besonders auch im Spätwerk Fontanes, doch wird diese nur begrenzt zur Satire gesteigert, während wir bei Mann gerade darin ein zentrales Gestaltungsprinzip erblicken. In diesem Punkt geht Mann über das Erzählkonzept Fontanes einen wichtigen Schritt hinaus. Überblickt man sein weiteres literarisches Werk, so zeigt sich,
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