Heft 
(1993) 56
Seite
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Peter Goldammer, Weimar

Nietzsche-Kult - Antisemitismus - und eine späte Rezension des Romans Vor dem Sturm". Zu Fontanes Briefen an Friedrich Paulsen

1. Friedrich Paulsen (1846-1908), Philosoph und Pädagoge

Nur anderthalb Jahre lang, am Ende seines Lebens, hat Theodor Fontane mit dem Berliner Professor Friedrich Paulsen korrespondiert. Den ersten Brief (von vierzehn, die überliefert sind) schrieb er am 14. März 1897, den letzten am 17. September des folgenden Jahres, drei Tage vor seinem Tod. Die Korrespondenz behandelt sehr unterschiedliche, doch für Fontanes Denken zum Teil wesentli­che Themen. Da die Gegenbriefe verschollen sind, wird mitunter der Zusam­menhang des Gedankenaustausches nicht ganz deutlich, und obgleich die mei­sten dieser Fontane-Briefe schon gedruckt vorlagen, bevor sie 1949 als biblio­philer Druck gesammelt erschienen 1 , lassen die Kommentare viele Fragen offen. Die Lücken können und sollen auch hier nicht geschlossen werden - das ist von Herausgebern künftiger Briefeditionen 2 zu leisten -, wohl aber möchte ich versuchen, zwei Briefstellen zu kommentieren und zu interpretieren, weil sie nach meiner Auffassung nicht allein für das Verständnis des alten Fontane von Bedeutung sind, sondern darüber hinaus auch für unser Verständnis der geistigen Situation des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland. Schließlich will ich bei dieser Gelegenheit die so gut wie unbekannte Bespre­chung eines Fontaneschen Werkes aus der Feder Paulsens vorstellen.

Seit wann Fontane den sechsundzwanzig Jahre jüngeren Paulsen kannte, ist auf Grund des derzeitigen Forschungsstandes nicht zu ermitteln. Der Name des Gelehrten kommt in Fontanes Briefen an Dritte, soweit sie bekannt sind, nur ein einziges Mal vor, nämlich in einem Schreiben, das er im Juni 1898 aus Dresden an seinen Sohn und Verleger Friedrich gerichtet hat und in dem er die Namen derer nennt, die sich über die AutobiographieVon Zwanzig bis Dreißig" geäußert hatten. Auch wissen wir nicht, ob es neben der Korrespon­denz auch einen mündlichen Gedankenaustausch gegeben hat; wahrscheinlich ist dies indes nicht, denn Paulsen wohnte damals schon in Steglitz, an der Peri­pherie Berlins.

Friedrich Paulsen, geboren in einem Bauernhaus des nordfriesischen Dorfes Langenhorn 3 , stammt eigentlich aus einer Seefahrerfamilie auf der Hallig Oland, die 1825, nachdem eine verheerende Sturmflut ihr Haus zerstört hatte, auf das Festland übersiedeln und mit der Landwirtschaft ihren Lebensunter­halt bestreiten mußte. Auch Friedrich Paulsen sollte Bauer werden und einmal den väterlichen Hof übernehmen. Doch er, der bis zum Beginn seiner Gymnasi- alzeit hauptsächlich friesisch sprach, wollte studieren und setzte diesen Wunsch gegen den Widerstand seines Vaters durch. Von der Theologie wech­selte er bald zur Philosophie über; die Stationen seines Studiums waren Berlin, Bonn, Heidelberg und Kiel. Neben philosophischen hörte er historische Vorle­sungen und solche über klassische Philologie; aber auch Nationalökonomie, Kunstgeschichte, Ägyptologie, Rechts- und Staatswissenschaft sowie Physiolo-

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