Peter Goldammer, Weimar
Nietzsche-Kult - Antisemitismus - und eine späte Rezension des Romans „Vor dem Sturm". Zu Fontanes Briefen an Friedrich Paulsen
1. Friedrich Paulsen (1846-1908), Philosoph und Pädagoge
Nur anderthalb Jahre lang, am Ende seines Lebens, hat Theodor Fontane mit dem Berliner Professor Friedrich Paulsen korrespondiert. Den ersten Brief (von vierzehn, die überliefert sind) schrieb er am 14. März 1897, den letzten am 17. September des folgenden Jahres, drei Tage vor seinem Tod. Die Korrespondenz behandelt sehr unterschiedliche, doch für Fontanes Denken zum Teil wesentliche Themen. Da die Gegenbriefe verschollen sind, wird mitunter der Zusammenhang des Gedankenaustausches nicht ganz deutlich, und obgleich die meisten dieser Fontane-Briefe schon gedruckt vorlagen, bevor sie 1949 als bibliophiler Druck gesammelt erschienen 1 , lassen die Kommentare viele Fragen offen. Die Lücken können und sollen auch hier nicht geschlossen werden - das ist von Herausgebern künftiger Briefeditionen 2 zu leisten -, wohl aber möchte ich versuchen, zwei Briefstellen zu kommentieren und zu interpretieren, weil sie nach meiner Auffassung nicht allein für das Verständnis des alten Fontane von Bedeutung sind, sondern darüber hinaus auch für unser Verständnis der geistigen Situation des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland. Schließlich will ich bei dieser Gelegenheit die so gut wie unbekannte Besprechung eines Fontaneschen Werkes aus der Feder Paulsens vorstellen.
Seit wann Fontane den sechsundzwanzig Jahre jüngeren Paulsen kannte, ist auf Grund des derzeitigen Forschungsstandes nicht zu ermitteln. Der Name des Gelehrten kommt in Fontanes Briefen an Dritte, soweit sie bekannt sind, nur ein einziges Mal vor, nämlich in einem Schreiben, das er im Juni 1898 aus Dresden an seinen Sohn und Verleger Friedrich gerichtet hat und in dem er die Namen derer nennt, die sich über die Autobiographie „Von Zwanzig bis Dreißig" geäußert hatten. Auch wissen wir nicht, ob es neben der Korrespondenz auch einen mündlichen Gedankenaustausch gegeben hat; wahrscheinlich ist dies indes nicht, denn Paulsen wohnte damals schon in Steglitz, an der Peripherie Berlins.
Friedrich Paulsen, geboren in einem Bauernhaus des nordfriesischen Dorfes Langenhorn 3 , stammt eigentlich aus einer Seefahrerfamilie auf der Hallig Oland, die 1825, nachdem eine verheerende Sturmflut ihr Haus zerstört hatte, auf das Festland übersiedeln und mit der Landwirtschaft ihren Lebensunterhalt bestreiten mußte. Auch Friedrich Paulsen sollte Bauer werden und einmal den väterlichen Hof übernehmen. Doch er, der bis zum Beginn seiner Gymnasi- alzeit hauptsächlich friesisch sprach, wollte studieren und setzte diesen Wunsch gegen den Widerstand seines Vaters durch. Von der Theologie wechselte er bald zur Philosophie über; die Stationen seines Studiums waren Berlin, Bonn, Heidelberg und Kiel. Neben philosophischen hörte er historische Vorlesungen und solche über klassische Philologie; aber auch Nationalökonomie, Kunstgeschichte, Ägyptologie, Rechts- und Staatswissenschaft sowie Physiolo-
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