Heft 
(1993) 56
Seite
49
Einzelbild herunterladen

gie, Anthropologie, Experimentalphysik und Chemie erregten sein Interesse. 1875 habilitierte er sich in Berlin mit demVersuch einer Entwicklungsge­schichte der Kantischen Erkenntnistheorie". Paulsen hat sich stets als Kantianer verstanden,wenn auch nicht [als] einen Kantianer von der orthodoxen Obser­vanz". 1898 veröffentlichte er dann in der ReiheKlassiker der Philosophie" den BandImmanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre", von dem sein Bio­graph Theodor Lorenz sagt, daß Paulsen dortden lebendigen Kant aus dem erstickenden Dünenhügel, den die 'Kantphilologie' über ihn ausgeschüttet hatte, herausgrub, indem er den Leser anleitete, persönlich zu den von ihm behandelten großen Problemen Stellung zu nehmen". Theodor Fontane gehörte zu diesen Lesern, und er hat sich, wie aus seinem Brief an den Verfasser vom 1. Juni 1898 hervorgeht, nahezu verzweifelt damit abgemüht, die Kantsche Erkenntnistheorie zu verstehen, mußte jedoch am Ende bekennen, daß er damitin der Hauptsache gescheitert" sei. Dies hätte hier nicht erwähnt zu wer­den brauchen, wenn nicht die Tatsache, daß Fontane kein philosophischer Kopf war, für das Folgende wichtig wäre.

Seit 1875 Privatdozent in Berlin, hielt Paulsen zunächst Vorlesungen vor allem über Geschichte der Philosophie - aus ihnen ging u.a. eine weit verbreitete Einleitung in die Philosophie" hervor -, wandte sich aber wenige Jahre später der Pädagogik zu. 1878 wurde er außerordentlicher Professor; ein Ordinariat erhielt er erst 1894. Er machte sich nicht nur einen Namen als Historiker seines Fachs, sondern war auch maßgebend an der Entwicklung des preußischen Unterrichtswesens beteiligt. SeineGeschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten" (1885) galt lange als Standardwerk. Als Bildungspolitiker trat Paulsen gegen das Gymnasialmonopol im höheren Unterrichtswesen auf und machte sich damit zahlreiche Gegner. Mit seiner For­derung nach Gleichstellung des Realgymnasiums und der Oberrealschule mit demklassischen" Gymnasium hatte er schließlich Erfolg.

Auch als die Pädagogik schon lange sein eigentliches wissenschaftliches Betäti­gungsfeld war, hielt er daneben noch immer philosophische Vorlesungen, u.a. über Ethik und Rechtsphilosophie, aber auch solche über Psychologie und Anthropologie. Im Unterschied zu der Mehrzahl seiner akademischen Kollegen meldete er sich häufig auch in Zeitschriften und in der Tagespresse zu Wort, was ihm manche professorale Mißbilligung, auch Mißachtung, einbrachte. Unter den schriftstellernden deutschen Kathederphilosophen" sei erwohl der gelesenste, meist aufgelegte, von der Öffentlichkeit am meisten beachtete" gewesen, schrieb Samuel Saenger, der langjährige Redakteur derNeuen Rundschau", in einem Gedenkartikel, der im Oktober 1908 in dieser Zeitschrift erschienen ist. Kein Wunder also, daß dieser atypische deutsche Gelehrte ein Mann nach Fontanes Geschmack war.

2. Nietzsche-Kult

Der erste (überlieferte) Brief Fontanes an Paulsen (vom 14. März 1897) bezieht sich auf eine Rezension des Adressaten, die am gleichen Tag in derVossischen Zeitung" stand, überschriebenZum Nietzsche-Kultus". Der Ton des Briefes erlaubt den Rückschluß, daß der Schreiber mit dem Empfänger gut bekannt

49