Heft 
(1993) 56
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politische und soziale Probleme, in denen wir unsere recht radikalen, also kei- nesweg regierungsfreundlichen Gedanken miteinander austauschten." 6 Tön­nies' BuchGemeinschaft und Gesellschaft", das im Sommer 1887 mit dem UntertitelAbhandlung des Communismus und des Socialismus als empiri­scher Culturformen" herauskam und den Namen seines Verfassers rasch bekannt machte, war Friedrich Paulsen gewidmet.

In den Sommerferien des Jahres 1873 hatte Tönniesin seiner alten Husumi- schen Schulbibliothek" Nietzsches SchriftDie Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" entdeckt; er las siemit Genuß, ja beinahe mit dem Gefühl einer Offenbarung". Wenig später stieß er auf die ersten beidenUnzeit­gemäßen Betrachtungen". Seitdem hat er sichjedes Nietzsche-Werk gleich nach Erscheinen... zu eigen gemacht, wenn auch mit allmählich abnehmender Begeisterung". 7 Als er sich 1883 in der Schweiz aufhielt, zusammen mit Lou Salome und Paul Ree, Nietzsches einstigen Freunden, mit denen der Philosoph jedoch seit kurzem zerstritten war, ist er ihm zwar begegnet, ohne jedoch seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Und als er ihn einmal in Naumburg besuchen wollte, traf er nur die Mutter an. Bald aber war Tönnies' Nietzsche- Enthusiasmus vorbei; bei der Lektüre vonAlso sprach Zarathustra" kamen ihmdas Pathos und die Salbung darin... etwas komisch vor". 8 In der SchriftDer Nietzsche-Kultus" - sie beruhte aufVorträgen in einem Privathause" 9 , war seinen Freunden Ernst und Karl Storm, zwei Söhnen des Dichters, gewidmet und trug als Motto sieben Verse aus Theodor Storms GedichtNach Reisegesprächen" - weist er gleich zu Beginn darauf hin, daßNietzsches Meinungen und Irrungen, deren Kultus diese Schrift kritisie­ren will", für ihndie Bedeutung einer persönlichen Angelegenheit" hätten. Er habefür diesen Autor geschwärmt, zu einer Zeit, als (außerhalb einer engen Gemeinde) fast niemand ihn kannte". Doch dann fährt er fort:Ich... habe der jüngsten Entwicklung Nietzsches... mit Mißtrauen und Besorgnis gegenübergestanden, obschon ich der Bewunderung für seine nun entfalteten rhetorisch-poetischen Talente mich nicht erwehren konnte, und obgleich die 'ewige Wiederkunft' als Offenbarung meiner eigenen Gedanken eine Art von Jubel in mir erweckte. - Ihrem überwiegenden Inhalte nach zeigen aber diese letzten Schriften das häßliche Bild verzerrter Mienen, oft die Attitüde des Trun­kenen, Überspannten, Verzweifelnden... des Dekadenten." Doch wundere es ihn nicht,wenn diese Sachen auf jugendliche Gemüter starken Eindruck machen", denn es seider Zauber eines mächtigen Geistes darin. Ihm, Tönnies, aber gehe es darum,zur Vorsicht aufzurufen, zur Besonnenheit und

Nüchternheit".

Am Schluß resümiert Tönnies: AlsSystem" seien Nietzsches Lehrennichts". Das System ist nur ein Hexensabbat von Gedanken, Ex- und Deklamationen, von Wutausbrüchen und widerspruchsvollen Behauptungen, dazwischen viele Geistesblitze leuchtend und blendend. Ernst und wichtig mögen diese Lehren genommen werden, insofern sie geeignet sind, unbesonnenen, unkritischen Lesern die Köpfe zu verwirren und zu verdrehen - sie können in der That be­rauschend und betäubend wirken im schlimmsten Sinne."

An Tönnies' Kritik knüpft Paulsen in seiner Rezension an; doch er geht noch einen Schritt weiter und fragt, wie es denn komme,daß Jungdeutschland

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