einem Schriftsteller von dieser Art als einer Offenbarung zujubelt". Und er findet als Ursache für diese „Gemüthsstimmung" den „intellektuellen Anarchismus" Friedrich Nietzsches. Dieser aber sei „die Reaktion des Subjekts gegen das lange Niedergeredet- und Niederkorrigirtwerden, dem es in der Schule und in der Kirche, in der Gesellschaft und im Staat ausgesetzt ist. Die Wirkung", fährt er fort, „der langen Disziplinirung ist, daß die korrekten Gedanken über alle Dinge, über historische und politische, über religiöse und moralische, über literarische und sprachliche, wozu wir durch lange Schulung und viele Prüfungen, durch öffentliche Meinungen und private Zurechtweisungen, durch patriotische Feste mit ewig wiederkäuender Beredsamkeit, durch Lockungen und Bedrohungen trainirt werden, uns schließlich so fad und abgeschmackt und unerträglich Vorkommen, daß wir alles abreißen und von uns werfen, die korrekten Ansichten und die alten Wahrheiten, die konventionellen Größen und die abgegriffenen Heiligthümer, endlich auch die Logik und die Moral, und uns den Saturnalien der Paradoxie hingeben, das Fest der Umwerthung aller Werthe feiernd."
Der protestantische Theologe Julius Kaftan (1848-1926), der Autor der anderen Anti-Nietzsche-Schrift, der 1883 nach Berlin berufen wurde, war Paulsens Nachbar in Steglitz. Er war es auch, der im August 1908 seinem Freund auf dem alten Matthäikirchhof in Berlin die Grabrede hielt. Bevor er in die deutsche Hauptstadt kam, war er seit 1874 außerordentlicher, seit 1881 ordentlicher Professor in Basel gewesen und hatte dort Friedrich Nietzsche kennengelernt. Obwohl Kaftan in vielem mit Tönnies übereinstimmt, ist sein Denkansatz ein anderer. Er kritisiert Nietzsches „Herrenmoral" als Vertreter und Verteidiger einer christlichen Moral. „Humanität und Demokratie", heißt es in seiner Rede, „sind nur die Folgerungen aus dem christlichen Grundgebot und verlieren ihren Sinn außerhalb des Christentums. Aber... man schilt dies die Sklavenmoral, unter deren Ketten die europäische Menschheit nun bald zwei Jahrtausend geseufzt habe, und die zu zerbrechen nun endlich die Zeit gekommen sei. Ihr stellt man unter dem Namen der Herrenmoral eine andere Moral entgegen. Die lehrt die Menschen, oder denn doch die Berufenen unter den Menschen, die Starken und Reichen, sich als Herren fühlen; die ruft sie auf, ihr Herrenrecht zu üben; die enthüllt ihnen das große Geheimnis, daß der kommende Mensch, der Uebermensch, der Sinn dieser Erde sei: ihn hervorzubringen, ihn zu zeugen soll das Ziel ihrer Wünsche, ihrer Sehnsucht sein, es soll den gesammelten Kräften der Besten die Richtung geben." Nietzsches „Herrenmoral" ist für Kaftan „eine der eigentümlichsten Erscheinungen und Schilderhebungen, die jemals Jünger um sich gesammelt haben". Über Nietzsches Philosophie ganz allgemein resümiert er: „Seine Bücher sind Rätselbücher und Labyrinthe. Wertvolle Einfälle stehen neben feinen und feinsten Beobachtungen, bunte Glasscherben mengen sich mit bunten Perlen und Edelsteinen. Man weiß ja aber, wie es geht. Wenn etwas Mode wird, dient dies Fremdartige und Abgerissene nur dazu, den Nimbus zu erhöhen und die Neugier zu reizen. Man kann aus solchen Schriften alles herauslesen und in sie hineinlegen, besser und leichter als es bei zusammenhängenden Werken möglich ist." Am Schluß seines Vor- trags geht auch Kaftan auf die Gefahr der Nietzscheschen Schriften für die Jugend ein: „In Wahrheit sind diese Bücher für das große, auch das große gebil-