Heft 
(1993) 56
Seite
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es gebegar keine Judenfrage", denn es existierekein jüdisches Volk, sondern nur deutsche, französische usw. Staatsbürger jüdischen Glaubens, welcher Glaube aber für das Staatsbürgerthum und die Nationalität von gar keiner Bedeutung sei". Paulsen nennt zwar den Antisemitismuseine unerfreuliche Sache" undeine beständige Bedrohung des öffentlichen Friedens", meint aber, daß er nicht eher aussterben wird, ehe nicht das Judenthum aufgehört haben wird, ein einheitliches, durch Blut- und Religionsgemeinschaft fest in sich geschlossenes Ganzes zu sein". Es sei daher Sache der Juden selbst,den Anti­semitismus abzuschaffen".

Die Paulsensche Argumentation, die im Grunde darauf hinausläuft, den deut­schen Juden die ihnen 1871 zugesprochene vollständige Gleichstellung partiell wieder zu nehmen, findet sich auch bei zahlreichen weiteren Intellektuellen in Deutschland. Und obschon Paulsen kein antisemitischer Agitator war, unter­scheidet sich seine Ansicht der Sache nach in nichts von der des dezidierten bekannten Antisemiten Paul de Lagarde, der gefordert hatte,daß die Juden aus Deutschland entweder auswandern oder in ihm Deutsche werden müs­sen". 12

Fontane, in seinem Brief vom 12. Mai 1898, beeilt sich, Paulsen wissen zu las­sen:Jeglichem, was Sie so knapp und so treffend sagen, stimme ich bei und nur in einem Punkte, der allerdings so ziemlich die Hälfte der ganzen Frage ausmacht, weiche ich ab. Sie legen den Accent darauf 'daß die Juden nicht wollen' und durch Zweidrittel unsres Jahrhunderts hin, hat es wohl vielfach auch so gelegen; jetzt liegt es nach meiner Wahrnehmung so 'daß die Christen erst recht nicht wollen." Und er glaubt auch, den Grund zu wissen:Wir standen bis 48 oder vielleicht auch bis 70 unter den Anschauungen des vorigen Jahrhunderts, hatten uns ganz ehrlich in etwas Menschenrechtliches verliebt und schwelgten in Emanzipationsideen, auf die wir noch nicht Zeit und Gelegenheit gehabt hatten, die Probe zu machen." Nach der fak­tischen Absage an die Ideale der Aufklärung, an Menschenrechte und Toleranz, wird Fontane noch deutlicher:Dies 'die Probe machen' trägt ein neues Datum und ist sehr zu Ungunsten der Juden ausgeschlagen. Ueberall stören sie (viel viel mehr als früher) alles vermanschen sie, hindern die Betrachtung jeder Frage als solcher. Auch der Hoffnungsreichste hat sich von der Unausreichendheit des Taufwassers überzeugen müssen. Es ist, trotz all seiner Begabungen, ein schreckliches Volk, nicht ein Kraß und Frische gebender 'Sauerteig', sondern ein Ferment, in dem die häßlicheren Formen der Gährung lebendig sind,­- - ein Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedri ges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann."

Man hat mit Bezug besonders auf diesen Brief gesagt, Fontane seian der Judenfrage' gescheitert" - was immer das heißen soll -, und es hätte "anderer Voraussetzungen bedurft..., als sie seinem kritischen Sinn zu Gebote standen", um über diesenäußersten Punkt hinauszukommen". 13 Hier wird, wie mir scheint, mehr verschleiert und verdrängt als aufgedeckt. Fontane mein t,es wäre besser gewesen, man hätte den Versuch der Einverleibung nicht gemacht". Und er beschließt die Briefstelle mit dem Satz:Und das alles sage ich (muß es sagen) der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren habe." Dieses Eingeständnis läßt sich in seinem Bezug zu dem Vorangegangenen rational schlechterdings nicht erklären. Auch die vielzitierte FontanescheWidersprüchlichkeit" oderAmbivalenz" versagt hier als Inter-