4. Noch eine Rezension Friedrich Paulsens
In seinem Brief an Paulsen vom 29. November 1897 bedankt sich Fontane für die „freundlichen Worte", die der Adressat für seinen „vaterländischen Roman" gefunden habe; gemeint ist „Vor dem Sturm". In demselben Brief kündigt er „einen Roman von beinah gleicher Dicke” an, den er Paulsen „in Jahresfrist” überreichen zu können hofft. „Er ist auch patriotisch, aber schneidet die Wurst von der andern Seite an und neigt sich mehr einem veredelten Bebel- und Stöckerthum, als einem alten Zieten- und Blücherthum zu." Am Schluß des Briefes teilt Fontane Paulsen mit, er werde „die 'christliche Welt'... ganz durchlesen"; es sei „mal was andres". Diese letzte Bemerkung führt zu dem Gegenstand, dem Fontanes Dank gilt. Paulsen hatte nämlich am 25. November des Jahres in dem Leipziger „Evangelischen Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände" mit dem Haupttitel „Die christliche Welt" 32 eine kleine Sammelbesprechung dreier Bücher veröffentlicht, die er „in diesem Jahre, meist im häuslichen Kreis vorlesend, kennen und schätzen gelernt" hatte. Es handelt sich um folgende Titel:
1. „Das Leben Friedrich Wilhelm Dörpfelds, von seiner Tochter, Frau Anna Carnap, beschrieben."
2. „Theodor Fontane, 'Vor dem Sturm'. Wohlfeile Ausgabe."
3. „Herman Grimms Vorlesungen über Goethe."
Die „wohlfeile Ausgabe" von „Vor dem Sturm" war 1896 bei Wilhelm Hertz in Berlin erschienen; Paulsens Besprechung hat folgenden Wortlaut:
An zweiter Stelle nenne ich einen Roman von Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Wohlfeile Ausgabe; geb. 5 Mk. Ich habe das Buch in Sommertagen am samländi- schen Ostseestrand gelesen, mit immer neuer Freude an der Fülle der Gestalten, davon der Dichter mit schöpferischer Kraft lebendige Wirklichkeit giebt. Der Roman führt ins Oderland, Frankfurt-Küstrin; die Zeit ist 1812/13; man könnte ihn das märkische Epos nennen, sein Held, gescholten viel und viel bewundert, der märkische Junker. Prachtvolle Charaktertypen, Junker und Bauern, Pastoren und Lehrer, Männer und Frauen, alte und junge, zaubert die in behaglicher Breite langsam fortschreitende Erzählung in unerschöpflicher Fülle uns vor Augen. Was Fritz Reuter für Mecklenburg-Pommern ist, das ist Fontane für die Mark; wer das Menschenleben, das auf diesem Boden gewachsen ist und auch heute noch gedeiht, kennen lernen will, der nehme diesen Roman zur Hand; er findet nicht Zerrbilder und nicht Schmeichelbilder, sondern Wirklichkeit, in die Sphäre der Dichtung erhoben.
Liest man diesen Text im Zusammenhang mit Fontanes Brief an den Verfasser, dann wird deutlich, was er meint mit dem Satz, daß der neue Roman „die Wurst von der andern Seite" anschneidet. Schon lange wollte Fontane nicht mehr als einer gelten, der „märkische Junker" porträtierte - es sei denn, sie hätten die Statur und die Sinnesart des alten Dubslav von Stechlin - oder der gar märkische Heimatliteratur produzierte. Mit dem Wort vom „veredelten Bebel- und Stöckerthum hat er wohl zunächst einmal zum Ausdruck bringen wollen, daß er den Anspruch erhob, als „gesellschaftlicher Schriftsteller" ernst genommen zu werden. „Veredeltes" Bebeltum könnte so etwas meinen wie den Versuch, die soziale Frage ohne Klassenkampf und mit Verzicht auf eine proletarische Revolution zu lösen. Schwieriger ist es dagegen, sich unter „veredeltem"
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