Stefan Neuhaus, Bamberg
Fontane und der Tunnel unter der Themse
Anmerkungen zu einem Motiv aus dem „Stechlin", seiner Geschichte und Bedeutung
1 .„Daß ich den Tunnel nichtgesehn..."
„'Daß ich den Tunnel oder den Tower nicht gesehn, das könnt ich mir verzeihn. Aber das Leben drüben! Wenn irgendwo das viel zitierte Wort von dem 'in einem Tage mehr gewinnen, als in des Jahres Einerlei' hinpaßt, so da drüben. Alles modern und zugleich alles alt, eingewurzelt, stabilisiert. Es steht einzig da; mehr als irgendein andres Land ist es ein Produkt der Zivilisation ...'" 1
Superintendent Koselegers Lobrede auf Großbritannien variiert das Thema des Romans „Der Stechlin", den Zusammenhang von Alt und Neu. Als Beispiel für das Alte wird der „Tower" of London genannt, das Neue vertritt der „Tunnel". England scheint demnach das perfekte Land zu sein, in dem „alles modern und zugleich alles alt" ist, das Tradition und Erneuerung in vorbildlicher Art zu verbinden weiß.
Bevor man sich weitere Gedanken über die Bedeutung dieser Aussage für das Romanganze machen kann, bleibt zu fragen: Was ist der Tunnel? Kein heutiger Reiseführer gibt darüber Auskunft. Tunnel unter der Themse gibt es viele; welcher könnte zum Zeitpunkt des Erscheinens des „Stechlin" ebenso berühmt gewesen sein wie der Tower, der zum Repertoire jeder Londonbesichtigung gehört? Die Anmerkungen zu der von mir benutzten Romanausgabe geben bereits kurze, allerdings wenig aussagekräftige Auskunft:
„Tunnel: der nach zwanzigjähriger, von dem Ingenieur Brunel geleiteten Bauarbeit am 25. März 1843 eröffnete Tunnel unter der Themse. 2
Heute ist dieses Bauwerk von der Liste der Londoner Sehenswürdigkeiten so vollständig verschwunden, als hätte es nie existiert. Kein Wunder, gibt es doch unzählige Tunnels, in denen Fußgänger, Züge oder Autos Flüsse unterqueren. Es gibt sie in London ebenso wie in zahllosen anderen Städten der Welt. Dementsprechend schwierig, fast unmöglich ist es, mehr über jenen mysteriösen, anscheinend besonderen Tunnel herauszufinden. Und doch hat es mehr mit ihm auf sich, als man denkt.
Macht man sich kundig, dann zeigt sich, daß es das Verdienst des Themse-Tunnels war, der erste neuzeitliche Tunnel unter einem Gewässer gewesen zu sein. Bei seinem Bau wurde das speziell zu diesem Zweck von dem Ingenieur Brunel entwickelte Schildvortrieb-Verfahren erstmals verwendet - eine kleine technische Revolution. Ohne diese Innovation wäre der Bau aller anderen Flußun- terquerungen nicht möglich gewesen, auch nicht der des unsere heutige Zeit beg schäftigenden Tunnels unter dem Ärmelkanal, des „Chunnel (Abkürzun