druck macht immer nur das, was einem im Moment auf die Sinne fällt, man muß die Größe direkt fühlen; ist man aber gezwungen, sich diese Größe erst herauszurechnen, kommt man erst auf Umwegen und mit Hülfe von allerlei Vorstellungen zu der Erkenntnis: ‘ja wohl, das ist eigentlich was Großes’, so ist es um die Wirkung geschehen. Der Tunnel versagte, desto mächtiger wirkte der Tower."
Denn der habe allein durch seine äußere Erscheinung „ein gewisses Gruseln" beim Betrachter erzeugt. 21
Eine dem Prinzip nach ähnliche, nur ganz anders wertende Betrachtung über den Tunnel findet sich in Fontanes Bericht zum 25. Stiftungsfest der Berliner Sonntagsgesellschaft vom Dezember 1852, aus der Zeit also unmittelbar nach dem zweiten Englandaufenthalt des Autors. Darin heißt es:
„'Wer jenen Bogengang (des Londoner Tunnels; S.N.) durchschreitet und nur äußerlich sieht, statt innerlich nachzudenken, dem wird jener wunderbare Bau nichts andres dünken als die Wölbung einer Kirche oder ein Kreuzgang, wie er deren hundert schon zuvor durchschritten. Die Größe liegt nicht im Augenschein, sondern im Gedanken, in der Vorstellung, daß Dreimaster über unsren Köpfen hinweggleiten.'" 22
Das Bauwerk an sich hat Fontane also nicht beeindruckt, nur mit Hilfe seiner Phantasie konnte er dessen „Größe" empfinden. Mit dem Abstand des Alters allerdings war Fontane selbst dies nicht mehr möglich.
Es paßt zu dem anglophilen Charakter des „Tagebuchs" von 1844, das eigentlich kein Tagebuch, sondern ein wohl anhand von tagebuchartigen Notizen ausgearbeiteter Aufsatz ist, daß Fontane es darin geschickt vermeidet, seiner später eingestandenen Enttäuschung über den Tunnel Ausdruck zu geben. Der „unvertilgbare Eindruck", den „diese Riesenstadt" London auf ihn gemacht hat, wird thematisiert und hinzugesetzt, daß auch ohne die bekannten Sehenswürdigkeiten London unvergleichlich wäre:
„Nicht die Italienische Oper (...), nicht die zahllosen Kirchen und Theater (...), nicht der angestaunte Tunnel, nicht Westminster mit seinen Sarkophagen und Marmorgruppen, nicht die prächtigen Squares und Säulen, nicht die stolzen Themsebrücken, sie alle nicht machen London zu dem, was es ist, sie könnten fehlen, ohne ihm seine Großartigkeit zu rauben. (...) Die Dresdner Bildergalerie ist reicher und wertvoller als die National Gallery Londons, und selbst der Tunnel macht mehr den denkenden als den fühlenden Menschen staunen, spricht mehr zum Geiste als zum Auge." 23
Neben der wenig eindrucksvollen äußeren Erscheinung des Tunnels gibt es noch andere, im Laufe der Zeit wechselnde Gründe, weshalb Fontane nicht näher auf diese damalige Hauptsehenswürdigkeit eingegangen ist. In dem „Tagebuch" von 1844 war es ihm wichtiger, alles an London zu loben, in dieses Konzept paßte der indifferente Tunnel nicht hinein. 1852 und 1855-59 aber, als Fontane in London war, um dem beständigen Lob britischer Freiheit und parla-
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