offenbar übereilten - Heirat mit dem italienischen Grafen Ghiberti. In dem „großen Apennintunnel", so erzählt Melusine der Baronin Berchtesgaden, habe Ghiberti seinen wahren Charakter offenbart und ihr gezeigt, „welchem Elend ich entgegenlebte". Seither sei sie, Männern gegenüber, „ein gebranntes Kind". 42 In dieser Textstelle wird angedeutet, daß der italienische Graf seine junge, unerfahrene Frau vergewaltigt hat. Es offenbart Melusines geringes Einschätzungsvermögen, wenn sie Woldemar ähnliche sexuelle Rücksichtslosigkeiten zutraut, wie Ghiberti sie anscheinend an ihr verübt hat. Auf die Verlobung ihrer Schwester reagiert sie wie folgt:
„'Ach, meine liebe Armgard'", sagte Melusine, 'wenn du wüßtest! Ich habe nur
die Freude, du hast auch die Last.'" 43
Eine „Last", die Armgard nach der Hochzeit allerdings mit Freuden trägt - hat sie, ruhig und überlegt, doch die richtige Wahl getroffen.
Eine m.E. notwendige Neubewertung der Hauptfiguren des „Stechlin" bzw. Neuinterpretation des Romans sei mit diesen wenigen Bemerkungen nur angedeutet. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Koseleger und auch Melusine geben sich durch ihre unkritischen Vorlieben für England, Tunnel oder Torpedoboote Blößen. Der Superintendent wird von Fontane, u.a. unter Einsatz des Motivs „Themse-Tunnel", als unkritischer Schwärmer vorgeführt, während die allgemein sehr positiv gezeichnete Melusine u.a. mit Hilfe der „Vabanque"- Bemerkung oder der Apennin-Tunnel-Episode als übermütig und etwas oberflächlich dargestellt wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund dürfte Woldemar sich bei seiner Brautwahl für die nachdenklichere und rücksichtsvollere Armgard entschieden haben.
Fontanes Einstellung gegenüber der vielleicht weltweit wichtigsten Sehenswürdigkeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem Themse-Tunnel, läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die paradoxe Bezeichnung „Tunnel über der Spree" auch von ihm hätte stammen und im „ Stechlin" hätte stehen können. Sie paßt gut zu dem berühmtesten „Tunnel"-Mitglied, wenn man in ihr nicht, wie der „Witzbold" Saphir es allem Anschein nach gewollt hat, einen groben Spaß, sondern eine ironische Antwort der Dichtung auf das beginnende Industriezeitalter sieht.
Anmerkungen
1 Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman. München 1969. (=Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe in 15 Bänden, Band 13.) S. 263.
2 Vgl. Theodor Fontane (siehe Anm. 1), S. 434. Die Bauarbeiten dauerten nicht 20, sondern 18 Jahre.
3 Zu den angegebenen Einzelheiten aus Brunels Leben bzw. der Geschichte des Tunnels v gl., sofern nicht anders angegeben: Gösta E. Sandström: The history of tunnelling. Underground workings through the ages. London 1963. S. 209.
Über Brunels Leben informiert ausführlicher, allerdings weniger objektiv: Richard Beamish: Memoir of the life of Sir Marc Isambard Brunel. 2., revidierte Aufl. London 1862.