Heft 
(1993) 56
Seite
85
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Die Frau vertritt die Stelle der Erde und setzt der Erde Urmuttertum unter den Sterblichen fort. Andererseits erscheint der zeugende Mann als Stellvertreter des allzeugenden Okeanos [...] Wer hat in dieser Verbin­dung die erste Stelle? Welcher Teil soll den andern beherrschen, Posei­don die Erde, der Mann das Weib, oder umgekehrt? 26

Christine beantwortet diese Frage, indem sie ihreUrmutter"-Rolle verweigert und nur noch die Kore suchende Demeter nachstellt, die um das vom Bruder- Geliebten(!) Zeus gezeugte Kind trauert, das von Hades in die Unterwelt ent­führt wurde.Ich bliebe lieber hier unten (...) der Stelle nahe (...) wo es liegt"(10). Holk beschreibt dann auch seine Erfahrungen mythologisch genau.Meine Tage sind mir vergangen, als ob Unterweltschatten neben mir herschwebten"(232). Die Machtfrage als solche hat die Gräfin ohnehin für sich entschieden. Holk weiß, wer hier Herr ist und nach wem es geht" (44), under hat sich angewöhnt, sich sei­ner Frau gegenüber immer in die zweite Linie zu stellen" (37). Kein Zweifel - auf Holkenäs war - mit Hilfe des Religiösen, das schon Bachofen als entscheiden­des Machtmittel der Frau behauptet 27 - eine gynaikokratischeRevolte" gelun­gen. Die Mutter bestimmt sogar - gegen das geltende Recht - über die Kinder, - der Mutterbruder besitzt in jeder Hinsicht mehrEinfluß" als der Vater: Wir haben dieBlutverwandtschaftsfamilie" vor uns, in der ebenBrüder und Schwestern (...) Mann und Frau eins des andern." 28 Nur letzteres bleibt eigent­lich kryptisch... Wie aus psychologischer Sicht Christines religiös verbrämter Wille zur Macht sich als Abwehr des verbotenen Begehrens (und letztlich des Todestriebes) herausstellt, haben wir im ersten Teil der Studie zu zeigen ver­sucht. Als sie dem Todesverlangen endlich nachgibt, ist vonHerrschergelü- ste(n)" nichts mehr zu merken. In ihrer zweiten Ehe istaller Streit aus der Welt"(257), herrschtFriede" (256). Und Holks Poseidonkultus entfaltet seinen todbringenden Aspekt, indem der Tempelbau Christines Beziehung zum Ele­ment durch räumliche Annäherung noch verstärkt. Zu den Gaben des Meer­gottes, der ja auch alsVater" der gleichsam untergeschobenen Kore gilt (!), gehören die an den Strand gespülten Leichen der Ertrunkenen... 29 Poseidons Herrschaft wird so zum tragischen Triumph des Imaginären über das Gesetz. Im Untergang bedient sich dieErde" des männlich codierten Was­sers, um der symbolischen Ordnung des Mannes zu entkommen an den präna­talen Uranfang.

Die Gräfin Holk hat mit ihrer vorgeblichen Gegenspielerin Ebba die Grund­störung gemein, die Unfähigkeit zur normgemäßen Bindung. Bei all ihrer offenkundigen Verschiedenheit verkörpern sie doch nur zwei Seiten des nar­zißtischen Syndroms: Während bei Christine - des idealisierten Vater-Imagos wegen - der Verschmelzungswunsch dominiert, ist Ebba ewig auf bewundern­de Bestätigung aus, ihrem pathologischen Größen-Selbst gemäß. 30 Die Annahme einer geheimen Verwandtschaft der beiden weiblichen Hauptfi­guren hilft eine Vielzahl der vom Text aufgegebenen Rätsel lösen, über die sonst gewöhnlich hinweggegangen wird. Wie wäre z. B. ein Satz wie der fol­gende plausibel zu erklären, bezöge man ihn nicht auf unsere Basishypothese: "Ich kann diesen Ton nicht recht leiden und muß dir sagen, es ist der Ton, der nach meinem Gefühl und fast a uch nach meiner Erfahrung immer einer