Heft 
(1994) 57
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als einem Vierteljahrhundert völlig vom Fortschritt abgenabelt hat, kann angesichts eines Telegramms ein ungutes Gefühl entwickeln.

Doch die eigentliche Romanhandlung setzt mit einem Telegramm ein. Die Statik, der Verfallscharakter der bisherigen Schilderung wird folglich mit einem Paukenschlag aufgehoben, denn das Telegramm symbolisiert Bewe­gung, Veränderung. Der, der es geschickt hat, ist ein weiterer Angehöriger der Stechlin-Familie. Die bisherigen Romaninterpretatoren pflegen, wenn sie die Träger des Stechlin-Namens aufzählen, bei Dubslav aufzuhören: See, Wald, Dorf, Schloß, Dubslav von Stechlin. 26 Daß auch Woldemar ein weiteres Glied in dieser Kette sein muß, ist bisher nicht berücksichtigt wor­den. 27 Sohn Woldemar also ist der Verfasser, er scheint sich folglich zeit­genössischer technischer Errungenschaften sorgloser zu bedienen als sein Vater. Woldemar kündigt sein Erscheinen an (S. 15), damit ist das erste Kapitel beendet. Die Bedeutung der Botschaft von der Ankunft Woldemars zeigt sich bereits in ihrer Stellung am Kapitelschluß. Sie spiegelt die Kon­zeption des Romans: an dieser Stelle kommt Woldemar nur zu einem kur­zen Besuch; auf Romanebene wird er für immer kommen, um den alten Dubslav abzulösen. Im ersten Kapitel reist er aus dem zur Weltstadt gewordenen Berlin an, später aus dem südlichsten Teil des Kulturlandes Italien, nachdem er vorher bereits das fortschrittliche Großbritannien besucht hat. 28 Am Ende des Romans wird Woldemar mit seiner Armgard im Schloß einziehen und die Stelle seines Vaters einnehmen. Ihm und sei­ner Frau wird es beschieden sein, die unterbrochenen Beziehungen zwi­schen dem provinziellen Dorf und der Außenwelt wieder herzustellen, die zurückgebliebene Provinz mit dem modernen, europäisch denkenden Deutschland zu versöhnen.

3. Wechsel der Jahreszeiten

Die Romanhandlung beginnt am 3. Oktober, einemwundervollen Herbst­tag" (S. 14), mit dem Besuch Woldemars und endet am 21. September des folgenden Jahres mit Woldemars und Armgards endgültigem Einzug ins Schloß (S. 401). Diese Zeiteinteilung ist alles andere als zufällig; die verge­henden zwölf Monate stehen für den naturgemäßen Wandel vom Alten zum Neuen, das mit Ablauf des Jahres wieder zu einem Alten wird. Die Jahreszeiten haben ihre übliche übertragene Bedeutung. Zuerst wechseln Herbst und Winter, Dubslavs Tod und Woldemars Nachfolge kündigen sich an. Später wechseln Winter und Frühling, Woldemar heiratet und bereitet sich so auf die Nachfolge vor. Dubslav stirbt, weil mit dem Winter seine natürliche innere Uhr abgelaufen ist. Daß Woldemar und Armgard einen Teil des Frühlings in Italien (S. 348), den "Sommer ihres Lebens" in Berlin verbringen (S. 400), entspricht ihrem weltoffenen Charakter. Am Ende des Sommers, dem 21. September - der 23. ist Herbstanfang! -, wer­den sie am Ort ihrer Bestimmung seßhaft. Auch sie stehen nun, wie Dub­slav vor ihnen, am Anfang der Periode, in der sie selbst zu etwas Altem werden. Ihre Kinder - man wird angesichts einer solchen Konstruktion nicht daran zweifeln, daß sie welche haben werden - sind dann die Vertre-

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