Heft 
(1994) 57
Seite
54
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ter einer neuen Generation, die den beständigen, natürlichen Wandel wei­terführen wird. Diese äußere Struktur des Wechsels von Alt und Neu hat man bisher wohl nicht erkannt, weil sich der Roman mehr auf das ver­schwindende Alte in Gestalt Dubslavs konzentriert. Die Romanhandlung spielt fast ausschließlich im Herbst und im Winter; der beginnende Früh­ling wird noch kurz thematisiert, der Sommer nur am Romanende erwähnt.

Das letzte, was wir vom noch lebenden Dubslav erfahren, ist, daß das Kind Agnes ihm die ersten Frühlingsblumen auf den Schoß legt (S. 385). Unmit­telbar damit endet das 42. Kapitel, der Anfang des 43. verkündet nur noch Dubslavs Tod. Der Beginn des Frühlings, festgehalten im Bild der Blumen­übergabe, muß nach dem skizzierten Prinzip der Tod des Alten sein. (Daß die besten Blumen, die Agnes finden konnte, Schneeglöckchen waren, ver­stärkt die Aussagekraft des Bildes; sogar die Blumen gehören noch dem Winter an.) Ein Kind aus dem Vierten Stand, ein Vertreter der zukünftigen, nach Woldemar kommenden Generation, reicht dem Vertreter der alten Ordnung Blumen. Eine versöhnendere Geste ist kaum denkbar, jeder Gedanke an Umsturz durch Revolution wäre abwegig.

Es ist auch kein Zufall, daß einen Tag nach Dubslavs Beerdingung Briefe der Hochzeitsreisenden eintreffen, geschrieben auf dem Wege von Rom nach Capri (S. 386). Der Wechsel ist also in vollem Gange. Als Dubslav unter die Erde gebracht wird, herrscht "...Prachtwetter, aber scharfe Luft, so daß man trotz Sonnenschein fröstelte" (S. 387). Der Frühling kündigt sich an, der Winter ist aber noch nicht fort. Das ist der Vormittag; am Nachmittag jedoch, als Dubslav seinen Platz in der Gruft gefunden hat, bricht der Frühling endgültig durch:

"Das Wetter war wunderschön; von der Kälte, die noch am Vormittag geherrscht hatte, zeigte sich nichts mehr; der Himmel war gleichmäßig grau, nur hier und da eine blaue Stelle. Der Rauch stand in der stillen Luft, die Spatzen quirilierten auf den Telegraphendrähten, und aus dem Saaten- grün stiegen die Lerchen auf' (S. 394).

Idyllischer läßt sich der Frühlingsanfang nicht beschreiben. Noch dazu befinden sich die singenden Spatzen auf Telegraphendrähten! In der Natur hat sich die Versöhnung von Alt und Neu, Natur und Technik bereits voll­zogen.

4. Nikolaus contra Nelson:

Der rückständige Dubslav und der fortschrittliche Woldemar

Julius Petersen hat in seinem ehrfurchtgebietend detailreichen und fun­dierten Aufsatz ausführlich dargelegt, daß die ursprüngliche Konzeption des Stechlin sich einem Bildungsroman annäherte. Fontane habe zuerst "Woldemar als Hauptperson des Romans" in den Mittelpunkt stellen wol­len. 29 Woldemar sollte durch die Stadien seiner Entwicklung begleitet, der wichtige Besuch in England beispielsweise zu einem noch umfangreiche-