Heft 
(1994) 57
Seite
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nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte voraus, da der Alte nicht einmal die Stufe der Englandbegeisterung teilte, deren Beginn noch von vor der Reichsgründung datiert. 31 Dubslavs Kritik ist demnach rückwärtsgewandt, Lorenzens vorausschauend. Des Priesters Reaktion auf die Erklärung des Alten kann somit nicht überraschen:

"Lorenzen sah betreten vor sich hin; etwas dagegen sagen ging nicht, und zustimmen noch weniger" (S. 232).

Und Woldemars Position? Er freut sich auf seine Reise. Was er dann tatsächlich von England hält, sagt sein Telegramm:

'"London, Charing Cross-Hotel. Alles über Erwarten groß. Sieben unver­geßliche Tage. Richmond schön. Windsor schöner. Und die Nelsonsäule vor mir'" (S. 242).

Es lohnt sich, bei dem Text dieses Telegramms einen Moment zu verweilen. Zumal diese Zeilen das einzige sind, was Woldemar aus England an seine Freunde schreibt; ein Punkt, der gleich eine interessante Diskussion zwi­schen den Empfängern hervorruft, die sich im Barby'schen Hause befin­den. Woldemars Freunde finden es "wenig":

"Nur der alte Graf wollte davon nichts wissen. 'Was verlangt ihr? Es ist umgekehrt ein sehr gutes Telegramm; Richmond, Windsor, Nelsonsäule. Soll er etwa telegraphieren, daß er sich sehnt, uns wiederzusehen? Und das wird er nicht einmal können, so riesig verwöhnt er jetzt ist. Ihr werdet Euch alle sehr zusammennehmen müssen. Auch du, Melusine" (S. 242).

Weshalb ist der alte Graf, der weiseste und welterfahrenste in der Runde, der Ansicht, diese wenigen Zeilen genügten? Bereits die Ortsangabe des Telegramms ist vielsagend: daß Woldemar sich in London befindet, ist bereits bekannt, nicht aber, daß er im Charing-Cross-Hotel abgestiegen ist. Wer London etwas kennt, weiß, daß Charing Cross der Name eines der wichtigsten Eisenbahn- und Straßenverkehrsknotenpunkte in London wie in Großbritannien überhaupt ist. Das Thema der "Weltverbundenheit" klingt an, indem Fontane seinen Woldemar an einem Ort wohnen läßt, der Verbindungen in alle Landesteile unterhält; und zwar in alle Teile jenes Landes, dessen politische und wirtschaftliche Macht zu dem Zeitpunkt bis in den letzten Winkel der Erde reicht. Dann die Aussage, alles sei "über Erwarten groß". Woldemar deutet hier an, daß er, trotz aller Möglichkeiten, sich im eigenen Land über das Inselreich zu informieren, erst "vor Ort" die wahre Größe des vom Hörensagen längst Bekannten kennenlernte. Die unvergeßliche" Reise hat seinen Horizont erweitert. Woldemar ist jetzt, wie Graf Barby es formuliert, "verwöhnt".

Bleibt noch die Klimax Richmond ("schön"), Windsor ("schöner") und Nelsonsäule, wobei von letzterer zwar nicht ausdrücklich gesagt wird, daß sie am schönsten ist - doch dieser Schluß liegt nahe. Mit Richmond ist der bekannte Park gemeint (nicht der Stadtteil). Windsor bezeichnet das

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