Heft 
(1994) 57
Seite
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Hinzusetzend, daß Lorenzen darin sein "Lehrer und Erzieher" gewesen sei. "'Zugleich mein Freund und Berater. Der, den ich über alles liebe'" (S. 158). Und: "'...ich liebe ihn sehr, weil ich ihm alles verdanke, was ich bin, und weil er reinen Herzens ist'" (S. 158). Auch über diese Bemerkung macht sich Melusine lustig. 33 Erst ganz am Ende des Gesprächs gelingt es Woldemar, Melusines Übermut zu dämpfen. Der Unterhaltung folgt, den Romanabschnitt schließend, ein Schwur der "Liebe" (S. 163). Dabei reichen sich die Gesprächspartner "über Kreuz" die Hände: die Baronin und Melusine sowie Woldemar und Armgard. Da das spätere Brautpaar sich bereits hier auf vielsagende Weise verbindet und der hinzukommende Baron eine "Verlobung" mutmaßt, weist die an sich harmlose Geste bereits auf die erst neunzig Seiten später verkündete tatsächliche Verlobung voraus. Dies mit einem Schwur endende 15. Kapitel leistet folglich viel mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat: die Unterschiede in Woldemars und Melusi­nes Charakter werden offengelegt, Armgard und Woldemar kommen sich näher.

Ist Armgard aber anders als ihre Schwester? Weshalb paßt sie besser zu Woldemar? Zu der angeführten Unterhaltung hat sie nichts beigetragen. "'Jedes Beisammensein braucht einen Schweiger'", hat Woldemar sie rück­sichtsvoll entschuldigt (S. 159). Wie ähnlich Armgard Woldemar ist, offen­bart sich (um an dieser Stelle nur ein prägnantes Beispiel zu nennen) in einem Gespräch unmittelbar vor der Verlobung der beiden, als Armgard zu "Elisabeth von Thüringen" bemerkt:

"'Andern leben und der Armut das Brot geben - darin allein ruht das

Glück. Ich möchte, daß ich mir das erringen könnte. Aber man erringt

sich nichts. Alles ist Gnade'" (S. 252).

Mit seiner Verlobung hat Woldemar nicht nur unter Beweis gestellt, daß er die richtige Wahl zu treffen weiß, sondern auch - so banal das klingen mag -, daß er sich überhaupt entscheiden kann. Er ist nicht ein zweiter, stets Fünf gerade sein lassender Dubslav. (Wobei dieser wohl in Woldemars Alter anders war - schließlich ähnelt sein Lebenslauf dem seines Sohnes.) Der Alte ist nicht mehr zu eigenen, zukunftsweisenden Entschlüssen fähig. Typisch für seine Haltung ist der folgende Ausspruch:

"'Alle Menschen sind Wetterfahnen, ein bißchen mehr, ein bißchen weni­ger. Und wir selber machens auch so. Schwapp, sind wir auf der andern

Seite'" (S. 186).

Die Wetterfahnen, die Dubslav sammelt, symbolisieren seine Entschei- dungslosigkeit; 34 eine Haltung, die in ihrer Ablehnung aller Doktrinen zwar sehr positiv, im Hinblick auf eine zu gestaltende Zukunft jedoch kaum wünschenswert ist. Das zeigt sich auch in Dubslavs politischer Nie­derlage und letztendlich in seinem Tod, der durch seine Unentschieden­heit, ob er nun Medikamente, Kräutertee oder Bienenhonig zur Kur ver­wenden soll, zumindest beschleunigt wird. Im Gegensatz zu seinem Vater

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