Agnes ist ein Kind der Zeit, und zwar im Wortsinn, denn: ihr Vater ist unbekannt. Adelheid deutet sogar an, daß Dubslav der Erzeuger sein könne (S. 363/364). 36 Das ist aber, bei Dubslavs integrem Charakter, weniger eine tatsächliche Möglichkeit als gehässige Nachrede. Allerdings weiß Adelheid nicht, weshalb Dubslav das Kind zu sich geholt hat. Daß dieser ursprünglich bloß seine Schwester damit verschrecken wollte, ist ein in der Forschung zu wenig beachteter Aspekt. Dubslav hat nicht etwa auf eine kommende Herrschaft des Vierten Standes hingewiesen, indem er das Kind in sein soziales Recht einsetzte. Er hat das Kind instrumentalisiert, zuerst mit ihm seine Schwester vertrieben und es dann, nach Adelheids Abreise, als Mittel der Zerstreuung bei sich behalten. Weil er sich mit dem Kind nicht streiten kann, wird es ihm schließlich langweilig (S. 370). Aus seiner humanen Grundhaltung heraus behält er es jedoch bei sich (S. 383). Armgard möchte sich später des Kindes annehmen. Woldemar ist aber der Ansicht, daß es seinen eigenen Weg ohne äußeren Zwang gehen müsse (S. 399). Damit wendet er sich gegen künstliche Beeinflussung und spricht sich für die Generalmaxime des Buches aus: eine naturgemäße Entwicklung, einen organischen Wandel, der schon, so formuliert es Woldemar, von selbst hervorbringt, was in der künftigen Generation an Gutem steckt (S. 399).
Armgard, der eigentlichen Heldin des Romans, wird Blässe vorgeworfen, viele Interpretatoren können sich mit ihr nicht anfreunden. Das ändert jedoch nichts an ihrer exzeptionellen Stellung im Roman, der sie, neben Woldemar, zu einer beinah idealen Lichtgestalt verklärt. 37 Armgard ist Graf Barbys " Tochter Cordelia", die sich, wie König Lears gleichnamige, jüngste Tochter in Shakespeares Stück, durch ihr gutes Herz auszeichnet (S. 224). Zudem ist sie bescheiden bis zur Selbstaufgabe:
"'...Woldemar und ich sind, vier Stunden nach der Trauung, schon wieder wie zwei gewöhnliche Menschen. Und sich dessen bewußt zu werden, damit kann man nicht früh genug anfangen.' - 'Armgard, du wirst mir zu gescheit', sagte Melusine" (S. 305).
Ein weiterer Beleg für ihre Idealität ist folgender Dialog zwischen Dubslav und Adelheid:
'"Sie hat so was Unberührtes.' - 'Nu ja, nu ja. Das liegt aber doch zurück.' - 'Wer keusch ist, bleibt keusch.' - 'Meinst du das ernsthaft?' - 'Natürlich mein ich es ernsthaft. Über solche Dinge spaß ich überhaupt nicht.' Nun lachte Adelheid herzlich..." (S. 359).
Dubslav erkennt Armgards Qualitäten. Sein "unberührt" meint er im übertragenen Sinne, während Adelheid nur an die sexuelle Bedeutung des Wortes denkt: ein erneuter Beleg für Adelheids Ignoranz und Scheinheiligkeit einerseits 38 wie für Dubslavs, trotz aller Rückständigkeit, 39 humanen und einsichtigen Charakter andererseits. 40