Heft 
(1994) 57
Seite
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Rudolf Muhs (London) und Wülfing rückten Fontanes Reportagen-Buch Ein Sommer in London (1854) in neue Zusammenhänge. Muhs hat etwa 30 vergleichbare Reisebücher über England herangezogen und kam zu dem Schluß, daß bei Fontane wenig Originalität vorherrsche. Das Reisen selbst habe an Häufigkeit so zugenommen, daß sich neue Strukturen bemerkbar machten, die F. nicht bemerkte oder bedienen wollte. Vielmehr (so Wül­fing) erprobe er einen Perspektivenwechsel, der mit dem Großstadterlebnis zusammenhänge. Die übliche Mythisierung der Großstadt teile Fontane nur in geringem Maße, vielmehr nutze er ein Verfahren in Anlehnung an den naturwissenschaftlichen Diskurs, er bringe die große Welt, das Panora­ma, unter das Mikroskop - ein Weg, der bei der Gliederung der gewaltigen Stoffmassen für die Kriegsbücher, 1866-1876, weiterverfolgt wurde, und, wie John Osborne (Warwick) überzeugend nachwies, versagen mußte. Christian Grawe (Melbourne) hatte schon 1986 eine solche Analyse begonnen (Vgl. Lit.Leben, 1987). In beiden Fällen kamen die Anstöße von außen, von gewandelten Verhältnissen. Wie Muhs zeigte, waren es die neuen Eisenbahn- und Dampfschiffverbindungen, die in kurzer Zeit eine erhebliche Verbilligung des Reisens bewirkt und damit zu einem nachweis­bar schnellen Anstieg der Zahl der deutschen London-Besucher geführt hatten. "Mit dem Aufkommen des Massentourismus einher ging eine funktionale Ausdifferenzierung der Englandliteratur. Die Information übernahm der Reiseführer", so Muhs, während die Anforderungen an die schriftstellerische Gestaltung sich änderten. Infolgedessen hatte es Fontane 1854 schwer auf dem Markt. Sein Buch findet eine durchweg negative, bestenfalls neutrale Kritik. Die Debatte über solche Thesen weitete sich aus und leitete zum nächsten Materialkomplex. Fontanes Arbeiten über Eng­land (aus Berlin) und sein England-Buch wurden in Beziehung gesetzt.

Diesen Komplex eröffnete Fischer (Hannover) mit historischen Fakten "Zum Politischen Fontane der Jahre 1861 bis 1863", bezogen auf dessen Verhalten während der Revolution von 1848/49. Wer die o.g. Materialien von 1986 nicht kannte, der stand hier am Anfang eines neuen Fontane-Bil­des. Am Ende der Neuen Ära, 1862, auf dem Höhepunkt der Verfassungs­krise in Preußen, steht der Preußenkritiker der Jahre 1848 und 1849 fest zu Bismarck. Schon Erler hatte in der Einleitung zu den Merckel-Briefen (1987) darauf hingewiesen, wie sich die Briefpartner aus gegensätzlichen politischen Lagern aufeinanderzu bewegten, ohne in allen Fragen überein­zustimmen. Eine gedachte "alt-preußische Gesinnung" bildet immer wie­der die Brücke, für Fontane wie für Merckel. Die Nähe zur "Wochenblatt­partei" konnte zeitweilig sowohl linke Konservative wie rechte Altliberale vereinen. In der neuen Regierung (nach 1858) bekleideten beide Seiten Regierungsämter. Obwohl Fontane mit Manteuffel aus dem Regierungs­dienst ausscheidet, öffnet sich ihm der Weg zur Kreuzzeitung (1860). Lepel, der Fontane manchen Berliner Salon erschlossen hat, wurde von Fischer den Liberal-Konservativen zugeordnet.

Es ist das Verdienst von Heide Streiter-Buscher (Bonn), diesen Übergang verständlicher und anschaulich gemacht zu haben. Indem sie die "echten

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