Heft 
(1994) 57
Seite
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Schlachtenepos entwerfen zu wollen, das beiden Seiten gerecht wird. Den­noch: das neue Zeitalter war offenbar so nicht mehr zu gestalten. Noch will Fontane das Geschehen vermenschlichen und in Genrebildern mit Anek­doten Übersicht schaffen. Aber der moderne Krieg entscheide sich nicht mehr in einer herausragenden Feldschlacht. Kriegsberichte übernähmen daher die Darstellung der Truppenbewegungen, der "individualisierte" Krieg (vom einzelnen aus gesehen) drifte in den Roman ab. In der Diskus­sion (Joachim Biener, Leipzig) wurde betont, daß dies den Weg zu Remar­que, zu Arnold Zweig und anderen Autoren kennzeichne.

Fontanes erster Roman "Vor dem Sturm", zu dem Walter Hettche (Mün­chen) und Otfried Keiler (Berlin) referierten, ist kein Kriegsepos, versucht den Zug ins Große als "Eindringen einer großen Idee in an und für sich einfache Lebenskreise" auf unkonventionelle Weise zu gestalten. Im ganzen dominie­ren die Reflexion und das Gespräch über die sich anbahnenden Ereignisse. Hettche konnte erstmalig aus einer Durchsicht aller vorhandenen Manu­skript-Teile den Nachweis führen, daß Fontane sich erst allmählich als auk- torialer Erzähler versteht und nie vollständig zurücknimmt. Bezeichnende Vorüberlegungen finden sich in den beiden großen Dichterporträts der Jahre 1871 und 1872, in "Walter Scott" und "Willibald Alexis", die Keiler ana­lysierte. Diese verkappte Selbstverständigung findet ihre Fortsetzung, als Fontane nach der Buchausgabe (1878) mit Freunden und Verlegern die Vor­züge und Schwächen seines Erzählverfahrens diskutiert, das "die Kunstform als Ganzes" ermöglicht und aufhebt. An Rodenberg: "Wie fein die Bemerkung, daß das, was ein Epos sein solle, hier im wesentlichen eine Aneinanderreihung von Balladen sei. Es trifft nicht nur den schwachen Punkt, es erklärt ihn auch, ja glori­fiziert ihn halb." Fontane sucht nach neuen Wegen in Novelle und Gesell­schaftsroman, zunächst in Anlehnung an Thackerays Romane.

Das Problematische Fontanescher Anschauungen konnte Marc Thuret (Paris) belegen, indem er die einander widersprechenden Äußerungen Fontanes über Napoleon III. interpretierte. Gibt Fontane anfangs seiner Sorge darüber Ausdruck, daß dieser Kaiser der Franzosen kein Bollwerk gegen eine neue Revolution bilden werde, so läßt er ihm später, nach des­sen Niederlage, mehr Gerechtigkeit widerfahren. Dahinter verberge sich ein gründlicheres Umdenken, ein Versuch, individuelle Schuld in kollekti­ver aufzuheben, die der französischen Nation zur Last gelegt werde. Thu­ret erweiterte das Untersucherungsfeld weltgeschichtlich: Er erinnerte an das bei Marx zitierte Hegelwort, wonach sich jedes weltgeschichtliche Ereignis gewissermaßen zweimal ereigne, einmal als Tragödie, einmal als Farce. Aus diesem Blickwinkel ist das Thema "Fontane und die Revolutio­nen des 19. Jahrhunderts" noch unvollkommen bearbeitet. Das gelte frei­lich auch für die Kriegsbücher insgesamt. Referate und Debatten dieser Konferenz führten mehrfach an solche Punkte, wo sichtbar wurde, daß die Ergebnisse einer reich gegliederten Teildisziplin nicht nur interdisziplinäre Beleuchtung und Ausweitung verlangen, sondern auch eine neue Synthe­se, die weiterführende Hypothese.

Der schreibende Apotheker Fontane sucht und braucht die konservative Besinnung, um nach vorn zu kommen. Entscheidende Anstöße gehen von

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