Heft 
(1994) 57
Seite
97
Einzelbild herunterladen

Michael Masanetz, Leipzig

Professor Helmut Richter zum 60. Geburtstag

Am 23. Mai begeht der seit über vier Jahrzehnten an der Leipziger Univer­sität tätige Literaturhistoriker Helmut Richter, Herausgeber, Kommentator, Interpret und Biograph von Kafka, Raabe, Fontane, Immermann, Börne, J. M. R. Lenz u. a. seinen Ehrentag. Zu wünschen ist ihm im Namen der Redaktion unserer Zeitschrift, deren Mitglied er von 1983 bis 1994 war, Gesundheit, Kraft und die in den Stürmen der Universitätserneuerung so vermißte Muße zu wissenschaftlicher Arbeit. Daß jene "Stürme", die kei­neswegs nur Frischluft im Gefolge hatten, das Gebäude der Leipziger Ger­manistik nicht zum Einsturz brachten, ist auch das Resultat seiner leisen, aber entschiedenen Amtswaltung als geschäftsführender Direktor der Ein­richtung, die einst Hans Mayer geleitet hatte, dessen geschäftsführender Oberassistent damals - Helmut Richter hieß. Damals wie heute setzte er sich ohne vorauseilende Rücksicht auf Aspirationen vorgesetzter Stellen für das als richtig Erkannte ein, auch wenn es - heute - eine vor der Wende gewonnene Erkenntnis etwa sein sollte. Für dieses Lehrstück persönlicher Integrität und Kontinuität sei ihm hier von ganzem Herzen gedankt.

Das Jahr 1994 bringt neben dem Geburtstag zugleich Richters fünfund­dreißigstes Doktorjubiläum. Es ist beinahe überflüssig zu sagen, daß auch seine wissenschaftlichen Arbeiten von Integrität getragen und durch Kon­tinuität ausgezeichnet sind. Die 1962 als Buch erschienene Dissertation 1 war ein früher Versuch, dem Werk Franz Kafkas im widrigen Umfeld DDR gerecht zu werden. Sie liest sich dieser Tage - im erneuerten Umfeld - aktu­eller denn je. Als Fontaneforscher trat Richter erstmals vor fünfundzwan­zig Jahren mit seiner Dokumentation 2 über den jungen Autor an die Öffentlichkeit. Mit Textauswahl (Erstdruck einiger besonders exponierter politischer Gedichte) und umfangreichem Nachwort schlug er, der 1969 auch fast zeitgleich mit Charlotte Jolles die frühesten publizistischen Arbeiten Fontanes wiederveröffentlichte 3 , sein Generalthema an: die präzi­sere Bestimmung der Position des Vormärzschriftstellers, die er in der Kri­tik an Reuters Monographie 4 gefordert hatte. Gegen die verbreitete und durch des alten Fontane Understatement noch beförderte ästhetische Unterschätzung und politische Verharmlosung der Textzeugnisse jener Jahre unternimmt es Richter, den jungen Poeten an seinen historischen Ort zu stellen. Die kühne These, daß Fontanes bessere politische Dichtung das Vorbild Herwegh hinter sich lasse, eine nur Heine vergleichbare Klarheit erreiche und so zu "den wenigen bleibenden Leistungen" gehöre, "die in jener Zeit ... geschaffen worden sind", entsprang dabei keinem Wunsch- enken, sondern einer Akribie mit Überschau verbindenden Analyse des dichtungsgeschichtlichen Kontextes; mit ihr einher ging die differenzierte Darstellung der ideologiegeschichtlichen Rahmenbedingungen, die die erstaunliche Radikalität der politischen Überzeugungen des Vormärz-Fon- tann e einsichtig machte. Von hie r aus war erst die Verlaufsfigur der weitere