Heft 
(1990) 49
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sich vor allem in Seidentopfs Weihnachtspredigt zeigt, in der er sich zwar um einen Bezug zum Weltgeschehen bemüht, aber nur in alttestamentarischen Bildern spre­chen kann undden Vergleich zwischen dem alten und dem neuen Pharao bis in die kleinsten Züge hinein" durchführt (I/46).

Dastote Horchen", das dieser Teil der Predigt bei den Zuhörern erzeugt, entspricht und entstammt dem bloß konservierenden Umgang mit der Geschichte und ihren stummen, in Urnen gefundenen Zeugen, wie Seidentopf ihn pflegt. Diesem unproduk­tiven Geschichtsverständnis stellt Fontane Berndt von Vitzewitz und seinen Kreis ge­genüber, der sich einerseits der eigenen Geschichte bewußt ist, die in Gestalt der Hü­gelkirche und der darin beherbergten Familiengruft in die Gegenwart hineinragt, an­dererseits aber auch aus eben dieser Geschichte die Verpflichtung zur eigenen Teil­habe am aktuellen politischen Geschehen ableitet. Auch dieses Geschichtsbewußtsein zeigt Fontane an einem Raum, an derAmts- und Gerichtsstube" des Hohen-Vietzer Herrenhauses nämlich. Dort herrscht einDurcheinander" vonwendische(n] To­tenurnen",italienische [n] Alabastervasen" (I/230) und ähnlichen Nippsachen, das an das Chaos in Seidentopfs Pfarrhaus erinnert. Aber der entscheidende Unterschied isteine in rötlichem Ton ausgeführte Porträtbüste Friedrich des Großen" (I/230): Sie verweist auf die preußisch-militärischen Traditionen, in denen Berndt verwurzelt ist. Es ist kein Zufall, daß diese Büste beim nächtlichen Einbruch der beiden Strolche zu Bruch geht (I/247).

In dem Gespräch mit Lewin am Weihnachtsmorgen (1. Band, 4. Kapitel) bringt Berndt das Lernen aus der Geschichte zur Sprache:Lewin, es war einst anders, und wir Alten, die wir noch das Auge des großen Königs gesehen haben, wir schmecken bitter den Kelch der Niedrigkeit, der jetzt täglich an unseren Lippen ist" (I/39). Er betont dabei, daß diese unmittelbare Vergangenheit gerade auf dem Land noch prä­sent ist, im Gegensatz zur Stadt, woUnter den Augen der Machthaber (. ..) die Un­terdrückung Maß .und das Ungesetzliche gesetzliche Formen" annahm (I/38). Diese Gegenwärtigkeit des Geschichtlichen zeigt der Erzähler an den einzelnen Dorfbe­wohnern. So provinziell Dorf Hohen-Vietz auf den ersten Blick erscheinen mag, so weltoffen erweist es sich, wenn man die Biographien einiger seiner Einwohner be­trachtet. Es sind nicht nur Hohen-Vietzer Autochthonen, die man hier antrifft, und selbst von diesen sind die meisten durch die Teilnahme am Frankreichfeldzug 1792 mit der Welt und der Weltgeschichte in Berührung gekommen. Krüger Scharwenka stammt aus Böhmen, Schulze Kniehase aus dem Rheinischen, und seine Adoptivtoch­ter Marie bringt gar ein wenig mignonhafte Exotik in das märkische Dorf. Selbst die biedere Tante Schorlemmer hat ein abenteuerliches Leben hinter sich, das sie von Herrnhut über Grönland und Berlin schließlich nach Hohen-Vietz geführt hat. An der Verbindung mit dem entferntesten Punkt dieser Lebensreise strickt sie buchstäblich noch im Winter 1812/13, indem sie die frierenden Grönländer mit selbstgefertigten Pullovern versorgt, und von einer wenigstens indirekten Berührung ihrer Lebens­kreise mit der Tagespolitik weiß Lewin zu berichten, der aus der Zeitung erfahren hat, daß in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 1812Niemand Geringeres als Napoleon selbst (...) vor dem Herrnhuter Gemeindehaus gehalten hat" (I/52). Fon­tane ist stets bemüht, solche Berührungen der Figuren seines Romans mit der außer­literarischen Wirklichkeit herzustellen, wie sich z. B. an kleinen Details auktorialer Kommentare beobachten läßt. In der Charakteristik des rheinischen Kolonisten Kniehase, die Fontane im 9. Kapitel des 1. Bandes gibt, heißt es:Die rheinischen Ko­lonistenfamilien [...], die ohne Rücksicht darauf, ob sie aus dem Cleveschen oder

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