Heft 
(1990) 49
Seite
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Vergleich mit dem wirklichen Schloß Gusow und seiner Beschreibung in den Wan­derungen nahelegt, geben diese Passagen des Romans ihren fiktionalen Charakter deutlich zu erkennen.

Das Verschmelzen .erlebter', also in der außerliterarischen Wirklichkeit existierender Orte mit den .gedichteten', das ich an einigen Handlungsräumen des Romans zu zei­gen versucht habe, führt in das Zentrum von Fontanes Romanikonzeption, wie sie sich seit Vor dem Sturm entwickelt und wie Fontane sie 1886 in der erst aus dem Nachlaß veröffentlichten Fassung seiner Besprechung von Paul Lindaus Roman Der Zug nach dem Westen niedergelegt hat. Fontane spricht von derAufgabe der Kunst", die darin bestehe, mit ihren Mitteln zu bewirken, daß in dem Kunstwerk zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist als der jener In­tensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühls­intensität, die die verklärende Aufgabe der Kun'st ist." SolchesVerklären" - und das bedeutet ja auch die .Klärung' der historischen Zusammenhänge gerade durch ihre Fiktionalisierung - leisten die Schilderungen der Orte in Vor dem Sturm. Fon­tanes Vorliebe für ausführliche Ortsbeschreibungen ist keine Marotte eines Autors, der sich im Gegenständlichen und Beschreibenden verliert und verzettelt, weil er nicht anders kann. An und in den Orten werden Personen und die Motive ihrer Hand­lungen, werden geschichtliche und soziale Strukturen sichtbar gemacht - sei es, daß es die Räume sind, die ihre Bewohner charakterisieren, wie das Arbeitszimmer den Prinzen Ferdinand oder das geschichtslose und ausdrücklich so bezeichneteDorf­idyll" der Hohen-Vietzer Pfarre den Prediger Seidentopf, sei es, daß umgekehrt die Bewohner ein auf den ersten Blick provinziell erscheinendes Dorf zu einem unmit­telbar mit dem weltgeschichtlichen Geschehen verbundenen Ort werden lassen. Das Bewußtsein, daß zwischen der Wesensart der Menschen und den Gegenden, in denen sie leben, ein Zusammenhang besteht, hat Fontane auch den Romanfiguren selbst zugestanden. Bei Tisch in Schloß Guse spricht man von solchen Dingen. Von der Tap­ferkeit der Gebirgsvölker -Auch bloße Höhenzüge schon geben Charakter" (I/186) - und derjenigen deran der See wohnenden Stämme' (I/186) ist die Rede, und das Schlußwort, das Lewin in dieser Unterhaltung spricht, ist charakteristisch für seine Auffassung wie für diejenige des Erzählers.Der Mensch ist und bleibt ein Sohn der Erde. Und wo er seine Mutter Erde am reinsten und unmittelbarsten hat, da gedeiht er auch am besten, weil ihm hier die Bedingungen seines Daseins am vollkommen­sten erfüllt werden.' Und so möchte ich denn vermuten, daß der scheinbare Triumph von Berg und See auf Ausnahmefällen oder zum Teil auch auf bloßen Täuschungen beruht. [...] Kein Land wird von den Bergen aus regiert [...] Keine Hauptstadt liegt im Gebirge; aus großen Flachlandsterritorien wachsen die regierenden Zentren auf. Und in und mit ihnen die Feldherrn und die Helden, von Hannibal und Cäsar bis auf Gustav Adolf und Friedrich" (I/186f.). Diese Leidenschaft für dieFlachlandsterrito­rien" - und damit natürlich für die märkische Landschaft - wie überhaupt die aus­geprägte Liebe zum räumlichen Detail, die den Roman in weiten Teilen kennzeich­net, mag sich gelegentlich jenerProvinzialsimpelei" annähern, die Fontane an Theo­dor Storm so unangenehm aufgefallen war. In Fontanes erstem Roman steigert sie sich jedoch ebenso oft - und ganz unironisch - ins Großartige.

*Für den Druck geringfügig veränderte Fassung eines Vortrags, der am 16. No­vember 1988 auf dem Fontane-Tag der Sektion Germanistik der Humboldt-Universi­tät Berlin gehalten wurde. Zitate aus Vor dem Sturm werden durch Angabe der Band­zahl in römischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern nachgewiesen, und zwar

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