Kontroverse über ein Fontane-Gedicht:
Es kribbelt und wibbelt weiter
Die Flut steigt bis an den Ararat,
Und es hilft keine Rettungsleiter,
Da bringt die Taube Zweig und Blatt - Und es kribbelt und wibbelt weiter.
Es sicheln und mähen von Ost nach West Die apokalyptischen Reiter,
Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,
Es kribbelt und wibbelt weiter.
Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,
Es brennen Millionen Scheiter,
Märtyrer hier und Hexen da.
Doch es kribbelt und wibbelt weiter.
So banne dein Ich in dich zurück Und ergib dich und sei heiter;
Was liegt an dir und deinem Glück?
Es kribbelt und wibbelt weiter.
(Fontane 1888)*
Günter Kunert, Kaisborstel
Fontane misanthropisch **
Zur menschlichen Hybris gehört es ganz offenkundig, kollektive Erfahrungen weder zweckdienlich vermitteln noch als Lehre nutzen zu können. Eine Tatsache, gegen die sich unser Verstand sträubt, da wir uns unzweifelhaft für vernünftige Wesen halten und diese Selbstüberschätzung mit allen irrationalen Mitteln zu verteidigen pflegen. Manchmal jedoch läßt sich die trostlose Wahrheit unserer genetisch bedingten Beschränktheit nicht wunschgemäß verheimlichen. Irgendeiner kommt und lüftet den Schleier über dem verdrängten Faktum. Unerwarteterweise hat dies ein Autor getan, dem eher die Bezeichnung human, gar humanistisch angehefftet worden ist; Theodor Fontane, der Erzähler einer Berlinschen und märkischen Kleinwelt. In diesem kaum bekannten Gedicht erweist er sich als resignativer Misanthrop-falls man gewillt ist, eine desillusionierte Anschauung der Menschheit so zu benennen.
* Theodor Fontane: «Werke, Schriften, Briefe". 20 Bände in vier Abteilungen. Hrsg, von Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Band 6: „Gedichte". 2. revidierte und im Anhang erweiterte Auflage. Carl Hanser Verlag, München 1978.
** Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 10. 6. 1989
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