Was zu seiner Epoche noch den glaubhaften Schein einer hoffnungsträchtigen Entwicklungsfähigkeit besaß, ist hier mit dem Neutrum „Es" schon radikal disqualifiziert. Dieses „Es" reduziert das Gemeinte, Menschheit eben, auf seinen rein organischen Charakter, der jedoch durch die entsprechenden Verben „kribbeln" und „wib- beln" assoziativ in Bezug zum Insektenbereich, zum Ameisenhaufen gesetzt wird. Unter diesem Aspekt erweist sich Geschichte, wie andeutungsweise in den ersten drei Strophen dargestellt, als die totale Sinnlosigkeit. Forftane wird hier plötzlich ein Vorläufer und Geistesverwandter des Philosophen Theodor Lessing, dessen Werk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" wie die theoretische Bestätigung der Fon- taneschen Verse gedacht wirkt.
Fontane, auf einer Lese-Reise im Jahr 1989, würde gewiß die berüchtigte Frage zu hören bekommen, wo denn das Positive bleibe und ob denn sein Pessimismus nicht weithin Lähmung verbreite und zum Suizid anstifte. Dann müßte er wohl erwidern, daß, selbst wenn eine winzige Minorität solche Konsequenzen aus den unbestreitbaren Einsichten zöge, die Mehrheit dennoch weiterkribbeln und -wibbeln würde. Er könnte zum Beispiel darauf hinweisen, daß nach dein Ende des zweiten Weltkrieges sogar fünfzig Millionen Menschen mehr auf der Erde existierten als zuvor und daß gegenwärtig, trotz global sinkender Lebens- und Umweltqualität, bereits die Sieb’en- Milliarden-Grenze überschritten sei, ohne daß ein Einhalten des Kribbelns und Wib- belns abzusehen wäre.
Und, Herr Fontane, was unternehmen Sie gegen diese heraufziehende Katastrophe? Wie kämpfen Sie dagegen an?
In der letzten Strophe nennt der Schriftsteller sein Credo, das nun auch nicht gerade ermutigend klingt und die Leser enttäuschen muß. Es ist nämlich die Forderung nach dem Verzicht auf Individualität, auf individuelles Dasein: Man habe sich selber zurückzunehmen und sich ins doch offenkundig Unabänderliche zu schicken. Erst wer die Waffen in diesem sinnlosen Kampf streckt und kapituliert, wer sich mit den unveränderlichen Gegebenheiten abfindet, fände zu einer ruhigen Heiterkeit. Ein ur- altes-Rezept, das wir bereits bei Marc Aurel in den „Selbstbetrachtungen" nachlesen können, wo es heißt: „Zieh dich in dich selbst zurück! Die in uns zur Herrschaft bestimmte Vernunft ist darauf angelegt, ihr Genügen in sich selbst zu finden, wenn sie das Rechte tut und dabei Frieden in ihrer Seele hat." Und fernerhin: „Es ist sinnlos, dem Schicksal zu grollen; denn es nimmt kein Klagen an."
Aber Fontanes Gedicht schließt nicht mit billigem Trost, mit einer Flucht zu meta- physischen Mächten. Obgleich es die Frage nach, dem persönlichen Glück mit verneinendem Unterton formuliert, bleibt die Frage dennoch zur Beantwortung dem Leser überlassen. Und die allerletzte, refrainartige Zeile enthält den Stachel der Beunruhigung, weil sie den Blick nicht von den Termiten lassen kann, mit denen wir identisch geworden sind.
Gisela Gackenholz, Lüneburg
Eine Entgegnung
Fontane bringt in diesem keineswegs „kaum bekannten" Gedicht, wie Günter Kunert annimmt, eine Grunderfahrung zum Ausdruck, der sich kein nachdenkender Mensch verschließen kann: die Menschheit ist von Urzeiten an von großen Katastrophen
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