Heft 
(1990) 49
Seite
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heimgesucht worden, die mit millionenfacher Vernichtung einhergingen. Die Sintflut, Hunger, Krieg, Pest, religiöse Verfolgung haben ganze Völker, ganze Gruppen da­hingerafft, doch hat sich das Menschengeschlecht immer wieder erholt. Es hat nie den totalen Untergang gegeben, und zwar weder physisch noch psychisch. Auch die großen Ideen sind trotz aller Bedrängnisse lebendig geblieben (etwa im Christen­tum), dennes kribbelt und wibbelt weiter". Fontane denkt dabei, ohne es ausdrück­lich zu erwähnen, an das Gewimmel auf einem Ameisenhaufen, das, oberflächlich ge­sehen, dem Auge des naiven Betrachters ein zielloses Hin und Her von Tausenden von Einzelwesen darbietet: eben dieses Gewimmel. Dahinter steht aber die Ordnung eines wunderbaren Bauplanes für die Gesamtheit, in dem jedem Individuum genau festgelegte Aufgaben zur Erhaltung des Ganzen zugeteilt sind. Das Einzelwesen wird zwar in diesem Gesamtgefüge gemäß seines ihm bestimmten biologischen Lebensab­laufes von Zeugung und Geburt über alle Entwicklungsphasen bis zum Tode schließ­lich zugrunde gehen, aber seine Spezies soll erhalten bleiben, jedenfalls solange es die Lebensbedingungen auf unserem Gestirn Erde erlauben. Dieses Lebensprinzip gilt für alle uns in milliardenfachen Ausprägungen umgebenden Organismen: also kurzes Leben des Einzelnen, aber Erhaltung der Gattung, und gilt somit auch für das Menschengeschlecht: es fluktuiert auf der Erdoberfläche in einem ständigen Kom­men und Gehen, das ihm nolens volens als Lebensprogramm zugeteilt ist, das zu er­füllen es nicht umhin kann. Sofern man gemäß unseres Kausalitätsdenkens eine Ziel­gerichtetheit in der Natur zu erkennen glaubt, kann man eine gebieterische Notwen­digkeit in diesem Ablauf sehen, vielleicht sogar etwas Positives. Aber man braucht auch keine wertenden Akzente zu setzen und nur das Phänomen zur Kenntnis neh­men, so wie es Fontane hier, bezogen auf das Menschengeschlecht, tut. Jedenfalls er­weist sich Fontane hier keineswegs alsresignativer Misanthrop" mit einerdes- illusionierten Anschauung der Menschheit", wie ihn Kunert sehen will. Man könnte sich vorstellen, daß Fontane auf seinen täglichen Spaziergängen durch die Straßen Berlins, das im Begriff war, sich zur Weltstadt zu entwickeln, beim Anblick der Men­gen von Menschen, denen er begegnete und die an ihm vorbeieilten, den Eindruck von Gewimmel hatte. Jedes Individuum auf ein Ziel hinstrebend, emsig, rührig, aber immer ohne Kontakt untereinander und in einer Art von Anonymität. Aber Fontane wird bei seinen Betrachtungen kaum wertende Akzente gesetzt haben, vor allem nicht den der maudite race. Kunert jedoch hört aus demKribbeln und Wibbeln," eine ab­wertende, ablehnende Haltung heraus. Vor allem stößt Kunert sich an demEs". Er setzt diesesEs" gleich mit Menschheit, dieauf ihren rein organischen Charakter reduziert" wird. Hier irrt Kunert. DiesesEs" hat eine rein grammatische Funktion wie in Tausenden vergleichbaren Wendungen in unserer Sprache. Man braucht nur einmal ein alphabetisches Verzeichnis von Gedichtanfängen in einer Anthologie durch­zusehen, um festzustellen, wie häufig diesesEs" ist. Es weist also nur auf das Gesche­hen hin, nicht auf das Subjekt, den Handelnden. Insofern ist es falsch, in diesem Es" eine von Fontane beabsichtigteDisqualifizierung" des Menschengeschlechts zu sehen.

Man kann auch nicht, wie Kunert es tut, Fontane unterstellen, daß er mit diesem Kribbeln und Wibbeln dietotale Sinnlosigkeit" der Menschheitsgeschichte gemeint hat. Fontane ist immer viel zu skeptisch, aber auch viel zu bescheiden gewesen, als daß er sich zu derartigen Behauptungen hätte hinreißen lassen. Fontane sagt hier wie auch sonst sehr oft: So ist es! Er sagt aber nicht: daß es so ist, ist sinnlos. Das Leben als solches trägt seinen Sinn in sich selber. Man kann ihn nicht von außen her auf Grund irgendwelcher Schlußfolgerungen hineininterpretieren und ebensowenig her­ausinterpretieren. Die Frage ob sinnvoll oder sinnlos läßt sich in bezug auf das Le-