ben überhaupt nicht stellen. Sie überschreitet gewissermaßen unsere Kompetenzen. Man könnte sich hier an ein anderes Fontane-Gedicht erinnern:
Die Frage bleibt
Halte Dich still, halte dich stumm:
Nur nicht forschen, warum? warum?
Nur nicht bittre Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen,
Wie's dich auch aufzuhorchen treibt.
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.
Dieses Gedicht bezieht sich auf die eigene Lebenssituation Fontanes: viele Enttäuschungen, „bittere Fragen". Jedoch läßt sich die Einsicht: „Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt" auch auf das große Geschehen im Rahmen der Menschheitsgeschichte übertragen.
Völlig verfehlt ist es also, aus Fontanes Gedicht „Pessimismus", „Lähmung", zum „Suizid" anstiftend, herauszulesen, wie Kunert es tut.
Kunert kann es nun nicht lassen, auf die Bevölkerungsexplosion hinzuweisen. Und in einem arroganten, unangemessenen Ton, den er vielleicht sogar apart findet, stellt er die Frage: „Und, Herr Fontane, was unternehmen Sie gegen diese heraufziehende Katastrophe? Wie kämpfen Sie dagegen an?“ Man könnte die Frage an Kunert zurückgeben: „Herr Kunert, was unternehmen Sie... usw. außer daß Sie als Schriftsteller darüber reden?" Diese Frage an Fontane ist in der betonten Form der schneidenden Höflichkeit vorgetragen. Sie ist aggressiv, und man spürt die herausfordernde Ablehnung der Fontaneschen Position.
Aber sie geht wieder an dem Fontaneschen Gedicht völlig vorbei. Fontane richtet seinen Blick auf die Schrecknisse der Vergangenheit und stellt das Weiterleben der Spezies Mensch fest: Es kribbelt und wibbelt weiter. Kunert ist fixiert auf eine hypothetische Katastrophe in der Zukunft, die er in diesem hypertrophischen Wachstum der Menschheit sieht, der es eines Tages infolge ihrer Massenhaftigkeit an „Lebens- und Umweltqualität" mangeln wird. Fontane sagt: Erst kommt das Unglück, aber dann geht es weiter, Kunert dagegen: das Weiterleben als solches, wie wir es zu erwarten haben, ist das Unglück.
Man kann vielleicht sagen: Kunert läßt seine Gedanken weiterschweifen, in Anlehnung an das Fontanesche Gedicht, aber mit dem Gedicht als solchem hat das nichts zu tun.
Nun zu den letzten 4 Zeilen: Fontane sieht sich, ohne daß er es expressis verbis ausspricht, vor dem Hintergrund des Weltgeschehens als ein kleines, unbedeutendes Einzelindividuum, fast ein Nichts. „Was liegt an Dir und Deinem Glück?" Und so ruft er sich selber in seiner Selbstbesinnung gewissermaßen zur Ordnung „So banne dein Ich in dich zurück, und ergib dich und sei heiter". Das ist die Lebensweisheit von Fontane, dieses „heitere Darüberstehen". Das ganze Gedicht ist darauf angelegt, in der letzten Strophe diese Gedanken zu formulieren.
Was macht aber Kunert daraus? Er sagt, daß dieses „Credo nicht gerade ermutigend klingt und die Leser enttäuschen muß". Er glaubt, aus Fontanes sich Ergeben „einen Verzicht auf Individualität, auf individuelles Dasein' herauszuhören. Ein völliges Mißverständnis! Dieses „Erkenne dich selbst" von Fontane ist eine Wertbestim- mung des persönlichen Seins vor einem größeren Hintergrund, und sie allein ermöglicht es, die Akzente im Einzelleben richtig zu setzen. Das ist aber kein Verzicht auf individuelles Dasein, sondern im Gegenteil seine Einordnung in das große Ganze.
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