Ernst Braun, Dresden (Hrsg.)
Max Tau:
Einführung in Leben und Werk Theodor Fontanes anläßlich der norwegischen Ausgabe von „Effi Briest" 1 (Oslo 1976)
„Leben heißt überwinden lernen!" An versteckter Stelle steht das Wort, das doch die Summe von Theodor Fontanes Wesen und Leben zieht: in seinem frühesten Roman „Vor dem Sturm". Weitschweifig, in der Manier seines geliebten Walter Scott, ohne tiefere psychologische Probleme zu berühren, macht der Siebenundfünfzigjährige hier eine kurze, historisch bedeutsame Zeitspanne lebendig: die Tage vor dem Aufbruch zur Befreiung aus napoleonischer Herrschaft in einem Winkel der Mark Brandenburg. Damit aber, ein Überwinder, erkämpft er sich, von äußerster materieller Not bedrängt, den Durchbruch zu seinem wesentlichen Selbst, ersteht erst der unsterbliche Fontane.
„Der Roman", sagt ein Brief vom September 1876, „ist in dieser für mich trostlosen Zeit mein einziges Glück, meine einzige Erholung. In der Beschäftigung mit ihm vergesse ich, was mich drückt... Ich empfinde im Arbeiten daran, daß ich nur Schriftsteller bin und nur in diesem schönen Beruf — mag der aufgeblasene Bildungspöbel darüber lachen — mein Glück finden konnte." Zwei Jahre später: „Das Glück besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört. Selbst die Tugend- und Moralfrage verblaßt daneben."
Das Schicksal hat es ihm sohwergemacht, den Platz zu erobern, auf den er „seiner Natur nach gehörte. Als Söhn eines Apothekers kam er am 30. Dezember 1819 in Neuruppin bei Berlin zur Welt. Beide Eltern - die Großmütter waren märkischer Abstammung - gehörten zur französischen „Kolonie", waren Nachkommen von Hugenotten. Nach blutigen Glaubenskriegen hatte König Heinrich IV., le bon roi Henri, 1598 im „Edikt von Nantes" den Protestanten Religionsfreiheit und politische Rechte zugesi- chert. Sein Enkel, Ludwig XIV., annullierte 1685 das Edikt; entzog den Protestanten jegliche Rechte religiöser und politischer Art. Die Flucht von Tausenden war die Folge; „un des grands malheurs de la France", wie Voltaire urteilte, denn es waren die Charakterstärksten, die sich den Gefahren solcher Flucht aussetzten: dem auf der Flucht Ergriffenen drohte die Galeere.
Damals regierte in der Mark Brandenburg, der Keimzelle des späteren Königreichs- Preußen, der Kurfürst Friedrich Wilhelm, den die preußische Geschichtsschreibung den „Großen Kurfürsten" nennt. Er gab den Refugiés in seinem durch den Dreißigjährigen Krieg entvölkerten und verarmten Lande „eine sichere und freye retraite": alle bürgerlichen Rechte. Das war nicht nur Beistand des selber calvinistisch-prote- stantischen Fürsten für seine Glaubensgenossen, war auch ein Akt nüchtern-politischer Klugheit: die Refugiés hoben sich durch feinere Umgangsformen von den noch recht unkultivierten Märkern ab, sie brachten auch bis dahin unbekannt gebliebene Industrien ins Land: Seiden-, Woll-, Lederwarenfabrikation, Gold-, Silber-, Zinnbearbeitung, Hahdschuhmacherei und anderes. Strumpfwirker war der erste Fontane (oder Fontaine), der 1690 nach Deutschland kam und sich 1697 in "Berlin mit Marie du Quesne verheiratete. Ein Pierre Barthelemy Fontane ist Ende des achtzehnten Jahrhunderts „Sekretär Ihrer Majestät" der Königin Luise. Sein Sohn aus erste Ehe,
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