Louis Henri, heiratete die wohlhabende, ebenfalls von Refugiés abstammende Emilie Labry und erwarb kurz darauf die Löwenapotheke in Neuruppin, wo er, von 1819 bis 1826, ein kleines Vermögen, 10 000 Taler, im Jeu verlor.
Eine „Mischung aus Märker und Gascogner" nennt sich der siebzigjährige Fontane, ohne sich französischer Literatur verwandt zu fühlen. Menschlich nah sind ihm zeitlebens Shakespeare, Dickens und Scott. Daher auch sein Abscheu gegen allen „Lärm in Gefühlen", gegen Phrase und Pathos. Das Leben? Es vollzieht sich ja nur, unausweichlich, „das von Uranfang an Bestimmte". Übrigens: „Was soll der Unsinn?" Das ist eine seiner Lieblingswendungen,, seit ihm die Anekdote vom Kolonialwarenhändler erzählt worden war, der sich wütend auf einen vor dem Laden stehenden Jungen stürzte und ihn verdrosch, denn: „Jeden Tag steht der Bengel, wenn er von Schule kommt oder hinjeht, hier beim Keller still und paßt uff. Wenn dann keiner von uns jrade hinsieht, stellt er sich an das Faß Sauerkohl und pißt rin. Nu schad't det ja dem Sauerkohl nischt - aber wat soll der Unsinn?" In der Freude am paradoxen Berliner Witz lacht die „südfranzösische Nonchalance" des Gascogners. Daneben aber ein anderes, fast ebenso oft wiederkehrendes Wort: „Alles ist Gnade". Den „festen Glauben an Bestimmung" betont der Neunundzwanzigjährige: positivistisch abgewandelter Glaube der Lehre Calvins von der Unabwendbarkeit allen Geschehens, weil göttliche Prädestination es so verfügt. Schlimm nur für das Objekt solcher Vorausbestimmung, daß der Calvinismus im materiellen Erfolg den Beweis göttlicher Gnade sieht. Was kann man da anderes tun „als Dinge sich selber machen zu lassen".
Das eigentliche Leben des jedem Reiz empfänglichen Kindes entfaltet sich erst, als der Vater - vorläufig aus der „Bredouille" erlöst, weil er die Löwenapotheke um den doppelten Wert des Ankaufpreises veräußern konnte - die Adlerapotheke in Swinemünde auf Usedom kauft. „Das Leben auf Strom und See, der Sturm und die Überschwemmungen" erschließen dem Jungen eine neue Welt, deren Abbild als „Kessin" ins Meisterwerk „Effi Briest" eingehen wird. Unregelmäßig verläuft der Unterricht, meist durch Hauslehrer gemeinsam mit Kindern befreundeter Familien. Wichtiger ist die „sokratische Methode" des Vaters, die dem früh erwachten historischen Interesse des Knaben reiche Nahrung bietet. Zwar hat Louis Henri als Freiwilliger am Feldzug Preußens gegen Napoleon teilgenommen, sein Plaudertalent aber, sein Gascogner-
tum, seine liebenswürdig optimistische Lebensart, die in so krassem Gegensatz steht zur puritanisch strengen,Charakterstärke, zur nervös reizbaren Gemütsart der Mutter, läßt das Kind Theodor mit Leidenschaft teilnehmen an den politischen Zeitereignissen. Da kämpfen die Griechen sich frei von türkischer Herrschaft. Da kommt es im Juli 1830 in Paris zur Revolution gegen die Bourbonen. Da reißt Belgien sich von Holland los. Da stürzen die Schweizer ihr aristokratisches Regiment und schaffen sich eine demokratische Verfassung. Da empören die Polen sich gegen die russische Oberherrschaft, bis sie der überlegenen Waffengewalt weichen müssen. Immer ist das wache Herz des Knaben auf seiten der Freiheitskämpfer, gilt sein Haß den despotischen Mächten. Im inneren Auge sieht er leibhaftig, was der Vater aus der Zeitung mitteilt, mit ihm bespricht - ganz so leibhaft wie den Kupferstich im Zimmer des Vaters, der „Frederic le Grand" mit seinen Generalen zeigt, die, nach Jahren, zu Helden seiner Balladen werden. „Alles war Poesie, die Prosa kam bald nach": Im Frühjahr 1832 schickt der Vater den Jungen auf das Neuruppiner Gymnasium, das
bald, nach üblen Erfahrungen mit der preußischen Pädagogik des direktorialen Schultyrannen, mit einer Gewerbeschule in Berlin vertauscht wird. Dort wohnt er bei einem Halbbruder des Vaters, „Onkel August", der mit „Tante Pinchen" ein echtes Bohémeleben führt, das im Frühjahr 1836 zusammenbricht, ohne dem Neffen „einen besonderen moralischen Dégout" einzuflößen. Dem Wunsch der Eltern gehorchend.
49