Monate nach London weist. Neben der beruflichen Arbeit gibt er Deutschunterricht, die Einnahmen zu verbessern. Die frühe Begeisterung des fünfundzwanzig jährigen Einjährigen für Englands Größe und Macht weicht jetzt allerdings einer viel kritischeren Einstellung, die schließlich in ein Apercu münden wird: „Sie sagen Christus und meinen Kattun".
Dann ist er daheim wieder „freier Schriftsteller", lebt kümmerlich von Zeitungsartikeln und Unterricht. Glaubte er sich wirklich einmal zum Dichter berufen? Endlich, 1855, sechsunddreißigjährig, wird er politischer-Korrespondent in London, kann sogar die Familie nachkommen lassen, aber schon nach vier Jahren, 1859, endet diese Episode, weil das Ministerium wechselt. Gewinn - nicht dem Dichter, nur dem Schriftsteller - bringt im August 1858 eine Wanderung durch das ihm aus Scotts Romanen herzensnahe Schottland. Beim Anblick eines „im Leven-See sich erhebenden alten Douglas-Schlosses" blitzt ihm der Gedanke auf: „Je nun, so viel hat Mark Brandenburg auch. Geh hin und zeig es!"
Wieder ist es mit dem bescheidenen Auskommen zu Ende, wieder ist er „freier Schriftsteller". Im März 1859 fährt er nach München, wo ein Tunnel-Freund, der heute vergessene, damals als Dichtergröße hochgelobte Paul Heyse, ihm eine Anstellung als Privatbibliothekar König Maximilians II. verschaffen möchte, aber der Versuch mißlingt, weil alles Preußische dem König widerwärtig ist. Der Familie zuliebe nimmt der Umgetriebene 1860 „in der Höhle des Löwen" — bei der konservativen Kreuzzeitung - mit 900 Talern Gehalt Anstellung als Redakteur des Englischen Artikels: Auf seinem Berliner Schreibsessel verfaßt er täglich in drei Bürostunden Berichte aus London.
Das hindert nicht, daß er Wanderungen durch die Mark Brandenburg unternimmt: „Geh hin und zeig es!" Schon im Spätsommer 1859 kann der erste Wanderungsbericht - „In den Spreewald" - erscheinen. Nicht um Landschaftsschilderungen handelt es sich bei diesen jahrelang ausgeführten und in vielen Bänden erscheinenden „Wanderungen durch die Mark Brandenburg", denn intensive Beziehung zur Natur war ihm versagt. Liebevolles Sichversenken in die historischen Hintergründe, wie es eigene Anschauung, mündliche Überlieferung, das Studium von Chroniken und Kirchenbüchern bot, machen den Reiz dieser „Wanderungen" aus. Und zum erstenmal, bei dieser erwanderten Arbeit, ist es ihm vergönnt, ohne „Eiertanz", ohne sorgfältig eingehaltenen „Mittelkurs", freien Herzens schreiben zu dürfen. Sein besonderes, fast liebevolles Interesse gilt dem alteingesessenen märkischen Adel, der stolz darauf ist, schon vor den Hohenzollern dagewesen zu sein. Der seit Kindheit wache historische Sinn lenkt die Feder des Wanderers, wie er in der früheren Schaffensepoche die Feder des Balladendichters gelenkt hatte.
Das Paradoxe in Fontanes Leben und Wesen enthüllt sich hier bildhaft: Das romantische Hingezogensein zum historisch Gewordenen überdeckt eine Weile die klare Erkenntnis vom „Pseudokonservatismus unseres Adels, der schließlich nichts will als sich selbst und das, was ihm dient". Im Alter wird er ein Faible für den märkischen Adel als „rein nach der ästhetischen und novellistischen Seite hin liegend" charakterisieren. Und so wird er, potenziertes Paradoxon, im allerletzten Werk sein Selbstporträt in der Maske des alten Dubslav von Stechlin geben.
D as nächste Jahrzehnt läßt den Wanderer und Bearbeiter des Englischen Artikels auch zum Kriegsberichterstatter werden. Alle Schauplätze der drei preußischen Kriege, 1864, 1866, 1870/71, sucht er auf, gerät sogar im Herbst 1870 in französische Gefangenschaft, weil er, romantischer Sehnsucht folgend, das zwischen den Fronten liegende Domremy, den Geburtsort der Jeanne d'Arc, aufsuchte. Zeitweise, denn man hielt ihn für einen Spion, „war das Totschießen sehr nah". In dicken Bänden schil-
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