auszukosten, gibt es in Kessin nicht, denn eine „Frau Landrat" auf der Schaukel würde den Gatten der Lächerlichkeit preisgeben, damit seine Karriere vernichten. Da betritt den verödeten Spielplatz Major Crampas mit seinem „Ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuh Pulver wert" Ersatz für die verlorene Schaukel, Verlockung zu „Spiel und Abenteuer"! Sie hat ihn „nicht einmal geliebt", konnte ihn „vergessen", weil sie ihn „nicht liebte". Nur die Nüchternheit Innstettens, sein Besessensein vom Karrieremachen trieb sie dem „Damenmann" in die Arme - dem „Damenmann", der hier zum erstenmal, im stummen Abschiedsgruß sich offenbarend, wirkliche Liebe gefühlt hat. So will es des Dichters Liebe zu seiner Effi, die sich in der liebenden Verehrung des buckligen Apothekers Gieshübler spiegelt, des einzigen echten, innerlich ihr verwandten Menschen, dem Effi im fremden Kessin begegnete - und der auch, mit einigen Variationen, Fontane heißen könnte.
Geschürzt ist der „Knoten" der Verwicklung; langsam, innerer Notwendigkeit gehorchend, muß folgerecht die Lösung sich vollziehen. „Es gibt ein ganz stilles Heldentum, das mir imponiert", sagt (in anderem Zusammenhang) ein späterer Brief Fontanes. Der zweite Teil des Effi-Romans gibt die Verklärung solchen stillen Heldentums. Wohl flammt Effis naturgesunde Leidenschaft noch einmal, in berechtigter Empörung auf, als sie beim Wiedersehen ihres Kindes erleben muß, daß der Vater, der Schulmeister, es zur Sprechpuppe abgerichtet hat. Aber auch das überwindet sie - still.
„Ja, die arme Effi!", schreibt der fünfundsiebzigjährige Überwinder, „vielleicht ist es mir so gelungen, weil ich das Ganze träumerisch und fast wie mit einem Psychogra- phen geschrieben habe. Sonst kann ich mich immer der Arbeit, ihrer Mühe, Sorgen und Etappen erinnern - in diesem Falle gar nicht. Es ist so wie von selbst gekom- men, ohne rechte Überlegung und ohne alle Kritik." Und an anderer Stelle; „... der alte Witz, daß man Mundstück sei, in das von irgendwoher hineingetutet wird, hat doch was für sich, und das Durchdrungensein davon läßt schließlich nur zwei Gefühlezurück: Bescheidenheit und Dank."
Mit „Effi Briest" hat der greise Fontane ein Meisterwerk geschaffen, weil er die rechte Liebe hatte, die er, aus dem eigenen Herzen, seiner Effi schenkte. Sein Leben, so voll von Entbehrungen, Entsagungen, Bitterkeiten und Demütigungen, ist eingemündet in Harmonie. Aber: „Die Gesellschaft ist ein 'Scheusal."
Bald nach Vollendung der „Kinderjahre", Mitte 1893, hatte der 75jährige die Ausarbeitung des „Brouillons" von 1890 beginnen können. Vom Oktober 1894 bis zum März 1895 erscheint „Effi Briest" im Vorabdruck, im Oktober als Buch. Berufene Kritiker erkennen sofort die Bedeutung des Werks, stellen es neben Goethes „Wahlverwandtschaften" und Tolstois „Anna Karenina". Nur ein Überwinder wie Fontane vermochte, die Gegensätze zwischen starrer gesellschaftlicher Ordnung und dem wirkli - chen atmenden Leben eines' nach Freiheit und Liebe verlangenden jungen Menschen so zu gestalten, daß wir Handeln und Leiden aller-Beteiligten mit-leiden. Mit „Effi Briest" ist Fontane in die Weltliteratur eingegangen. Vergessen sind seine Balladen, die „Wanderungen" werden einen Süddeutschen kaum ansprechen. Heute erleben wir, daß, mehrere Jahrzehnte nach seinem Tode, „Effi Briest" in englischer Sprache erschien, hymnisch gefeiert von der jungen Kritikergeneration. Der Roman wurde das Lieblingsbuch von Samuel Beckett. 3 Auch das würde er vermutlich mit der gleichen Gelassenheit hinnehmen, die ihn das neuerliche Fernbleiben des preußischen Adels bei der Feier seines 75. Geburtstages humorvoll weise glossieren ließ: „. . . Kommen Sie , Cohn"! Freude hingegen wäre ihm die tiefe Verehrung, mit der der stärkste Romancier unserer jüngsten Vergangenheit, Thomas Mann, zu ihm als seinem großen Lehrmeister aufsah.
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