Heft 
(1965) 1
Seite
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Neuem, einem Augenblick höchster Gefahr und überschwenglicher Hoffnung. Der TitelVor dem Sturm meint den Vorabend der Befreiungskriege. Fontanes Ro­man spielt in den Wochen, die dem preußischen Kriegseintritt unmittelbar vor- angehen. Die Nachricht vom Untergang der Großen Armee, mit der Napoleon sein russisches Abenteuer gewagt hat, gibt den Handlungs-Auftakt; sie setzt die Hoff­nung frei, auch Preußen werde nun das Joch des Eroberers abwerfen. Die patrio­tische Aktivität ist geweckt. Aber es herrscht keine Einmütigkeit. Überall brechen Spannungen und Spaltungen auf, hervorgerufen von der Frage, wie der einzelne, wie das Ganze sich zu verhalten haben. Die Besseren und Besten, zahlreich genug, machen sich bereit, zu dem Krieg, den sie herbeiwünschen, ihr Teil beizutragen. Sie warten auf das Wort des Königs. Doch die Regierung schweigt.

ln dieser schwankenden Lage gibt Berndt von Vitzewitz, Gutsherr zu Hohen-Vietz und vormals preußischer Reiteroffizier, die Zentralfigur des Romans, den Impuls zur Aktion. Seine Forderung, sofort, ja überhaupt zu handeln, wirkt als Prüfstein für Charakter, Gesinnung und Verständnis der Situation, dennsich entscheiden ist schwerer als gehorchen, und der selbständigen Entscheidung kann niemand, an den Vitzewitz herantritt, ausweichen. Daraufhin zeichnet sich der wahre Zwie­spalt ab, der durch das Land geht. Er verläuft nicht zwischen verschiedenartigen Individuen, sondern trennt die Machthaber ein Ausdruck Fontanes vom Volk, und das umso mehr, je näher sie dem Throne sind.Nirgends ein Verstehen des Moments das ist die Erfahrung, die Vitzewitz aus Berlin mitbringt, wo er bei Hardenberg undin anderen einflußreichen Kreisen vorgesprochen hat. Der Minister erschrickt, als ihm sein Besucher den Gedanken eines Volkskriegs entwickelt; er glaubt nach wie vor an ein friedliches, vorteilhaftes Arrangement mit Napoleon. Aber wenn Berndt von Vitzewitz daraufhin die Verantwortung für das unverantwortliche Abwarten bei Hardenberg sucht, so irrt er.

Als er am Neujahrstag dem alten Prinzen Ferdinand, einem Bruder Friedrichs II., seine Aufwartung macht, wird ihm mit aller Klarheit bedeutet, daß der König nicht von seinen Dienern getäuscht und betrogen wird, sondern daß er selber der Hemmschuh ist, an dem die Befreiung zu scheitern droht.Ich kenne das Volk; ich habe mit ihm gelebt ... es ist ein gutes Volk, erklärt der Prinz.Aber der König ist eingeschüchtert; er hat viel Schmerzliches erlebt und nicht das Große, das meine jungen Tage gesehen haben. Ich kenne ihn genau. Er schließt lieber ein Bündnis mit dem Feinde, vorausgesetzt, daß ihm dieser Feind in Gestalt eines Machthabers oder einer geordneten Regierung entgegentritt, als mit seinem eignen, in hundert Willen geteilten, aus dem Geleise des Gehorsams herausge- kommenen Volke. Denn er ist ganz auf die Ordnung gestellt. Mit einem einheit­lichen Feinde weiß er, woran er ist, mit einer vielköpfigen Volksmasse nie. Heute ist sie mit ihm, morgen gegen ihn, und während das ihm zu Häupten stehende Napoleonische Gewitter ihn treffen, aber auch ihn schonen kann, sieht er in der entfesselten Volksgewalt nur ein anstürmendes Meer, das, wenn erst einmal die Dämme durchbrochen sind, unterschiedslos alle gesellschaftliche Ordnung in seinen Fluten begräbt. Und die gesellschaftliche Ordnung gilt ihm mehr als die politi­sche. Und darin hat er recht. Für Vitzewitz ist das der Anlaß, sich scharf abzu­grenzen:Ich habe das Bangen vor dem Volke nicht, und ich wage es mit ihm. In dem Augenblick, wo ihn die Verblendetheit der Staatsführung vor die Wahl zwischen Volk und Thron stellt, kennt er keinen Zweifel, auf wessen Seite er sich zu schlagen, wessen Interesse er zu vertreten hat. Er schreitet im Oderbruch- Gebiet, wo seine Stimme gilt, zur Volksbewaffnung und ist entschlossen, auf eigene Faust mit den Franzosen anzubinden.

Fontanes Roman bringt in diesen Parteien einen Teil dessen zur Anschauung, was der junge Engels aus radikal-demokratischer Sicht als den höchsten Gewinn der Bewegung von 1812/13 bezeichnet hat:Daß wir uns über den Verlust der

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