trifft die neue Regierung Anstalten, die deutsche Frage einer Lösung zuzufüh- ren. Das gibt den Ausschlag. Denn seit das deutsche Bürgertum spürt, wie sich in seinem Rücken das Proletariat regt, konzentriert es seine nationalen Wünsche auf Preußen. Nur der Hohenzollernstaat verfügt nach der Meinung, die Ende der fünfziger Jahre vollends die Oberhand in der nationalen Bewegung gewinnt, über die Möglichkeit, Deutschland zu einigen, ohne daß die Gefahr einer radikalen, einer "roten“ Revolution heraufbeschworen wird. Dieser Staat jedoch, von dem die nationale Initiative ausgehen soll, zeigt sich spröde. Zwar ist Wilhelm I. durchaus empfänglich für die Verführung, die in dem Gedanken liegt, Preußens Großmachtstellung auszubauen; die Legitimitätsbedenken jedoch; in denen er befangen ist, und vor allem sein Mißtrauen gegen jedwede eigenmächtige politische Regsamkeit der Bourgeoisie wie der Unterschichten erweisen sich als stärker. So betreibt er die Vervollkommnung des preußischen Heerwesens, die Verstärkung der Armee, was der Bourgeoisie für ihre deutschen Zwecke an sich willkommen ist. Aber er läßt es über bestimmte innenpolitische Konsequenzen der Heeresform zum Bruch mit den nun ihrerseits mißtrauisch gewordenen Liberalen kommen, zum „Konflikt“, in dessen Gefolge sich die Monarchie binnen kurzem wieder zum erklärten Mittelpunkt der Reaktion mausert, während das Land abermals an den Rand der Revolution gerät.
Die Analogie zwischen der Lage, in der sich Preußen zur Zeit des Heeres- und Verfassungskonflikts befindet, und den oben skizzierten zentralen Partien von „Vor dem Sturm“ liegt auf der Hand. Wer sich damals bewußt ist, daß die Einigung Deutschlands, im Grunde schon überfällig, nicht länger vertagt werden kann, und wer die entscheidenden Schritte von Preußen erwartet, dem muß das Verhalten der Monarchie und des Monarchen kleinmütig, verblendet, anachronistisch erscheinen, als ein Ausweichen vor Lebensfragen, die unabweisbar geworden sind; es muß ihm erscheinen als pure Existenzgefährdung, bewirkt durch die Weigerung, sich mit der Volksbewegung abzufinden und zu einigen. Das jedoch entspricht aufs Haar der Problemlage in „Vor dem Sturm“. Man wird nicht annehmen wollen, daß sich eine solche Entsprechung von ungefähr ergibt. Der vergangenheitsgeschichtliche Stoff dient dem Schriftsteller noch stets als Material, um die Probleme seiner eigenen Zeit zu vergegenständlichen. Fontane bildet auch in diesem Punkt keine Ausnahme; eine Behauptung, für die sein politischer Werdegang, sein Traditionsbewußtsein und, damit verbunden, die Vorgeschichte von „Vor dem Sturm“ Argumente zur Verfügung stellen.
Es verbietet sich, die Zeugnisse hier auszubreiten. Hingewiesen sei lediglich auf einen Umstand, der geeignet ist, die Bezogenheit des Romans auf die zeitgeschichtlichen Auseinandersetzungen auch vom Entstehungsprozeß her zu beglaubigen. Seiner eigenen Auskunft zufolge befaßt sich Fontane jahrelang mit dem Stoff des geplanten Werks, ohne daß sein Vorhaben Gestalt annimmt. Im Jahr 1860 lernt er die Lebenserinnerungen des Generals Friedrich August Ludwig von Marwitz kennen, die als Hauptquelle von „Vor dem Sturm“ zu betrachten sind; Fontane verdankt ihnen zahlreiche Anregungen; unter anderem stammen daher die Grundlagen für die Ausformung des Insurrektions-Sujets. Das Romanvorhaben und das geeignete Wirklichkeitsmaterial zu seiner Verkörperung liegen also vor. Marwitz findet auch sogleich das Interesse Fontanes, der ihm eine eingehende Darstellung widmet, die nachher in die „Wanderungen“ eingeht.
Zur Arbeitsaufnahme am Roman jedoch kommt es erst Anfang 1862, als sich der innerpreußische Konflikt definitiv abzeichnet und die Einsetzung des konservativen Ministeriums, das die reaktionäre Wendung der preußischen Politik be- siegelt, nur noch eine Frage von Wochen ist. Es spricht dafür, daß die Zuspitzung der inneren Widersprüche der dritte auslösende Faktor gewesen ist, durch dessen Hinzutreten das gestaltlose Romanvorhaben Fontanes und das Material,
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