Heft 
(1965) 2
Seite
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durstigen Jahren mit der russischen Literatur bekannt gemacht hat, ist durch diese spöttisch-skeptische, bewußt sich distanzierende Schilderung aus den neunziger Jahren nur mit Einschränkung zu akzeptieren. Wolf- sohn sei zwar so sagt Fontane wie alle im Klub fürFreiheit ge- wesen, doch habe er Maß darin gehalten, wie in all und jedem Die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit war für den Juden Wolfsohn der von deutschen Eltern in Rußland geboren und aufgewachsen - sich in dem Heimatland seiner Vorväter durchzusetzen hoffte, damal jedoch eine Lebens- und Existenzfrage und er hat in Wort und Schrift sich entschieden für die Emanzipation seiner Glaubensgenossen einge- setzt. Auch die Verbreitung der jungen, aufblühenden Literatur eines Landes, dessen offizielle zaristische Vertretung gerade bei den um demo- kratische Ziele kämpfenden Mitgliedern des Vereins doch als reaktionär und als Knute Europas verschrien war, zeigt nicht nur seine Verbunden­heit mit den russischen Geistesschätzen, sondern auch seine Einsatzbereit­schaft für alles Zukunftsträchtige. Neben ausgezeichneten Literaturkennt­nissen mußte Wolfsohn, um überhaupt bei seinen Hörern Interesse zu er- wecken, die Fähigkeit besitzen, diesen die Kluft klarzumachen, die zwischen dem Staat Rußland und seinem Volk, zu dem seine Dichter- vertreter gehören, herrschte. Er mußte es verstehen, ihnen zu erklären, wie gerade die unglaubliche Unterdrückung des Volkes bei seinen besten Kräften dazu führte, dieses gedrückte Leben und Leiden des Volkes in ihren Werken zu schildern die Verbiegung der Charaktere, die Flach- heit der Adelsgesellschaft, die großen Sorgen und kleinen Freuden der Bauern, die ganze Unmoralität der Leibeigenschaft Themen, die in der Folgezeit die russische Literatur von Meistern der Dichtkunst aufge­griffen zur führenden Literatur in Europa machten.

Fontane erlebte diesen Prozeß der Entwicklung der russischen Literatur zur Weltliteratur von Anfang an mit; für ihn brach nichts Neues und Überraschendes herein, als zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts Tolstoi und Dostojewskij den Weltruhm der russischen Literatur unumstößlich machten. Und so sehr man vielleicht an seiner Schilderung des Leip­ziger Literaten Vereins und seines Freundes Wolfsohn Genauigkeit im Tatsächlichen der Jahre 1841/42 vermissen mag, so aufschlußreich ist es andererseits, was ihm, dem Dichter, in der Rückerinnerung am wesent­lichsten erscheint: Wolfsohns Vorträge als die Quelle, aus der er zum ersten Male russische Literatur schöpfte. Fontane sagt von Wolfsohn: Seine Domäne war die Gesamtbelletristik der Deutschen, Franzosen und Russen. Rußland, wenn er uns Vortrag hielt, stand mir allemal obenan, wobei ich mir sagte, ,das nimm mit; Du kannst hundert Jahre warten, ehe Dir russische Literatur wieder so auf dem Präsentierbrett entgegen­gebracht wird. Ich ging in meinem Feuereifer so weit, daß ich sogar russisch lernen wollte. Doch schon in der zweiten Unterrichtsstunde war seine Geduld erschöpft und er sagte mir, ,gibs nur wieder auf, Du lernst es doch nicht ... Also mit der russischen Sprache war es nichts; in bezug auf russische Literatur jedoch ließ ich nicht wieder los und von Derschawin an, über Karamsin und Schukowski fort zogen die damals noch lebenden oder doch erst jüngst gestorbenen Dichter: Puschkin, Lermontoff, Pawloff, Gogol 14 an mir vorüber. Ein ganz Teil von dem, was mir Wolfsohn damals vortrug, ist sitzengeblieben, am meisten von den drei letztgenannten (Lermontoff war mein besonderer Liebling) und so sehr alles nur ein Kosthäppchen war, so bin ich doch auf meinem Lebensgange nur sehr Wenigen begegnet, die mehr davon gewußt hätten, als was ich damals aufpicken durfte. 15