Wie Fontane in dieser Fassung seiner Erinnerungen selbst betont, gehörten die drei Klassiker der russischen Literatur, Puschkin, Lermontow und Gogol, wie auch der heute wenig bekannte N. F. Pawlow 1841 - 42 zur Gegenwartsliteratur. Puschkin war fünf Jahre tot, Lermontow gerade im Duell gefallen und von Gogol erschienen in Rußland eben „Die toten Seelen“. Des damals noch lebenden Pawlow Novellen, die vor allem die Hohlheit und den moralischen Tiefstand der Adelsgesellschaft bloßstellten, hatten in den dreißiger Jahren in Rußland großes Aufsehen erregt. Deutsche Übersetzungen von Werken dieser Autoren gab es zu jener Zeit nur in geringer Zahl a . Fontanes eigene Schilderung erlaubt festzustellen: er war einer der ersten deutschen Dichter von Weltgeltung, die so früh und so unmittelbar mit der jungen russischen Literatur vertraut wurden. Dies erfolgte zunächst auf mündlichem Wege — dank der persönlichen Bekanntschaft mit dem rede- und vortragsgewandten Wolfsohn. Doch Fontane erhärtete seine durch den Freund empfangenen Eindrücke auch durch Lektüre: aus seinem Brief aus Leipzig vom Juli 1843 an Wolfsohn ,H geht hervor, daß er Puschkins Novellen in der Übersetzung von Tröbst und Sabinin las“ 1 9 — das sind „Belkins Erzählungen und „Pique dame“.
Als sicher darf angenommen werden, daß er auch Übersetzungen von Gedichten Shukowskijs und Dershawins, die Wolfsohn 1840 und 1841 veröffentlichte 80 , gelesen hat — nicht umsonst erwähnt er gerade diese russischen Dichter, die am Anfang der glanzvollen Periode der russischen Literatur standen. Ferner muß er Wolfsohns literaturgeschichtliche Abhandlung „Die schönwissenschaftliche Literatur der Russen“, die im April
1843 in Leipzig herauskam 81 und deren Abfassung in das Jahr 1842 fällt — also in die Zeit regsten Verkehrs zwischen Wolfsohn und Fontane —■, gekannt haben. In dieser Literaturgeschichte ist ein ausführliches Kapitel auch dem von Fontane genannten Karamsin gewidmet.
N. Melgunow
Wilhelm Wolfsohn war also von entscheidender Bedeutung für Fontanes Einführung in die russische Literatur. In der deutschen und russischen Sprache aufgewachsen, war es Wolfsohn ein Herzensbedürfnis, als Vermittler zwischen den Geistesgütern beider Völker aufzutreten. Es war für Wolfsohn daher ganz natürlich, wenn er bei seinen Vorträgen über deutsche Literatur, die er nach der Rückkehr in seine russische Heimat
1844 und 1845 in Odessa und Moskau hielt, auch auf Fontanes erste Versuche als Dichter aufmerksam machte 88 . Für Fontane dagegen war es recht sensationell, in Rußland eher bekannt zu werden, wenn auch nur in kleinem Kreise, als in Deutschland. Auch dieses Erlebnis klingt bis ins hohe Alter nach, wo er sich mit sichtlichem Vergnügen daran erinnert, daß Wolfsohn ihn 1844 45 „etwas gewagt“ zur allerjüngsten deutschen Literatur rechnete, woraus sich dann ergab, daß er „in Petersburg und Moskau bereits ein Gegenstand eines kleinen literarischen Interesses war“, als ihn „in Deutschland niemand kannte, nicht einmal in Berlin“s 2 3. Die unmittelbare Reaktion auf dieses „kleine Interesse“, da Wolfsohn „literaturbeflissenen Russen“ in Moskau Mitte der vierziger Jahre für seine Dichtungen abzugewinnen vermocht hatte, war von jugendlichem Stolz erfüllt gewesen. Im Brief vom 27. Juli 1846 an Bernhard von Lepel brüstete er sich ein wenig damit, er „habe durch den Dr. Wolfsohn Dameneroberungen in Moskau gemacht“ 8 \ Wichtiger aber als diese Eroberungen war die auf diese Weise durch Wolfsohns Vermitt-
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