Lesung im „Tunnel“ wurde wieder von Fontane geschriebent 4 5, doch is es — d a die „Tunnel“-Protokolle in der Berliner Universitätsbibliothek heute für die Jahre 1852 bis 1856 eine Lücke aufweisen “ — leider nicht zu ermitteln. Es ist also das dritte Protokoll von Fontanes Hand, das über russische Literatur im „Tunnel über der Spree“ aussagt. Alle drei können als Ergänzung seiner Erinnerungen an seine Erlebnisse mit der russischen Literatur angesehen werden. Ein Umstand jedoch verdient in diesem Zusammenhang besondere Erwähnung. Der Übersetzer des Lustspiels, August Viedert, fand damals — vielleicht schon Ende April, aber gewiß im Monat Mai — bei Fontane Unterkunft. Fontane vermietete ja gelegentlich zur Aufbesserung seiner Haushaltskasse ein Zimmer, es ist auch möglich, daß er auf Wolfsohns Empfehlung hin den ziemlich mittellosen und in Berlin wenig bekannten Viedert als Gast in sein Haus aufgenommen hatte. Jedenfalls berichtete Viedert selbst in einem Korrespondenzbericht, den er am 1. Juni 1854 aus Berlin an die Moskauer Zeitung „Moskovskie vedomosti“ schickte, über ihre Wohngemeinschaft. Dieses interessante Zeugnis über Fontanes Bekanntschaft mit einem Mann, der für die fünfziger Jahre als einer der wichtigsten Vermittler russischer Literatur in Deutschland gelten muß, lautet in der Übersetzung: „Jetzt muß ich schließen. Mein liebenswürdiger Gastgeber ruft mich zum Kaffee. Ich wohne bei dem jungen Literator Theodor Fontane, der in Deutschland durch das Gedicht ,Von der schönen Rosamunde 1 bekannt geworden ist, ferner durch die Herausgabe eines belletristischen Almanachs ,Argo‘ und anderer Veröffentlichungen. In Kürze wird sein Werk über England herauskommen ", das aus Briefen und Aufsätzen besteht, von denen viele schon in Zeitschriften gedruckt worden sind. Vor zwei Monaten, als ich noch in Moskau war, las ich in Ihrer Redaktion (gemeint ist die Redaktion der Zeitung .Moskovskie vedomosti“ — Chr. Sch.) in der Zeitschrift .Atlantis“, die in Dessau erscheint, einen der anziehendsten Londoner Briefe Ich habe erst jetzt erfahren, daß dieser Brief von Theodor Fontane geschrieben wurde.“ ,s
Dieser Korrespondenzbericht Viederts zeigt nicht nur, daß Fontane den Übersetzer gut gekannt haben muß, sondern auch, daß seine Behauptung in „Von Zwanzig bis Dreißig“, daß er alles, was er von „vor-Turgenjew- scher russischer Literatur“ wisse, Wolfsohn verdanke M , nicht ganz richtig ist. Denn Viedert machte ihn 1854 mindestens ebenso vertraut mit Gogol, als Wolfsohn es 1841 / 42 in Leipzig und 1852 in Dessau — bei Gelegenheit von Fontanes mehrtägigem Besuch — getan hat. Nicht nur im „Tunnel“, sondern auch während der bei Fontane genossenen Gastfreundschaft hat Viedert ihm seine „Revisor“-Ubersetzung nahegebracht. Es ist undenkbar, daß nur Fontane bei ihrem Beisammensein von seinen Arbeiten erzählt hat — von dieser Seite des Gedankenaustausches zeugt ja der oben zitierte Korrespondenzbericht —, auch Viedert hat bestimmt seinen Gastgeber an seinen Arbeitsvorhaben teilnehmen lassen. Es ist sehr wohl möglich, daß Fontane seinem Gast sogar beim Ausfeilen mancher Stelle in seinen Übersetzungen geholfen hat. Viedert beschäftigte sich aber damals nicht nur mit Gogols „Revisor“, sondern auch mit Iwan Turgenjews sogenannten „Jägerskizzen“. Diese als „Aufzeichnungen eines Jägers“ berühmt gewordenen kleinen Szenen, die das Leben der russischen leibeigenen Bauern und die verschiedenen Typen der sie beherrschenden Gutsbesitzer schildern, waren 1847 und 1848 zum ersten Mal in der russischen Zeitschrift „Sovremennik“ und im August 1852 in Rußland als Buch erschienen. Sie erregten in Rußland ungeheures Aufsehen.
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