Lohnzahlung während eines Arbeitskampfes 165
alle Maßnahmen zu vermeiden sind, die auch nur mittelbar Einfluß auf die Streikentscheidung der Arbeitnehmer haben könnten.
Mittelbaren Einfluß auf die Streikentscheidung hat aber auch der Wegfall des Lohnanspruchs, ohne daß daraus jemand die Konsequenz ziehen würde, der Lohnzahlungsanspruch auch der Streikenden müsse aufrechterhalten werden.
Nicht das Ob des faktischen Einflusses auf den Streikentschluß, sondern Maß und Grad dieses Einflusses entscheiden über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme im Sinne von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Insoweit unterliegt das Streikrecht, wie heute— ungeachtet der Begründung dieser Schranken— nahezu allgemein anerkannt ist, den Grenzen der Verhältnismäßigkeit oder Sozialadäquanz. Nicht jeglicher, sondern nur„unverhältnismäßiger“,„sozialinadäquater“ Druck auf die innere Entscheidungsfreiheit der Arbeitnehmer über ihre Streikteilnahme ist dem Arbeitgeber durch Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG verboten. Jede andere, einseitig vom Schutz der Streikeffizienz her argumentierende Auffassung verletzte zugleich das ebenfalls durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Recht des Arbeitgebers auf positive Koalitionsfreiheit, das im wesentlichen gegenstandslos würde, wenn an Streikende oder Ausgesperrte der Lohn fortgezahlt werden müßte, und das Recht der Unternehmen am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, der durch Art. 14 GG geschützt ist!8.
Die den Konflikt zwischen dem Recht der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften aus Art. 9 Abs. 3 GG auf Streikausübung einerseits und dem Recht der Unternehmung auf Streikabwehr andererseits, geschützt gleichfalls durch Art. 9 Abs. 3 und 14 GG, lösende Norm ist in einem solchen Falle, wie ich an anderer Stelle näher dargelegt habe, anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips i.w.S., über das sich die Verwirklichung des Interessenabwägungsprinzips im Einzelfall situationsbezogen vollzieht, zu gewinnen!?,
Angesichts dieser notwendigen, konkurrenzlösenden Interessenabwägung verbietet es sich, an sich rechtmäßige Handlungen des Arbeitgebers, die negative Nebenfolgen für das Streikrecht der Arbeitnehmer haben könnten, grundsätzlich für unzulässig zu erklären. Vielmehr sind solche Nebenwirkungen so lange hinzunehmen, wie sie nicht als unverhältnismäßige Beeinträchtigungen anzusehen sind.
Demgemäß ist die von Zulagen der vorliegenden Art ausgehende Anreizwirkung zur Arbeitsaufnahme so lange hinzunehmen, als sie nicht so stark sind, daß es für jeden„vernünftigen“ Streikteilnehmer— auch bei guter Streikmoral— unvernünftig wäre, den Streik fortzusetzen. Der finanzielle Anreiz, die besonderen Belastungen von Streikarbeit auf sich zu nehmen, um in den Genuß einer Zulage zu kommen, ist so lange unschädlich, als dabei nicht ein mittelbarer Zwang zur Arbeitsaufnahme entsteht. Eine solche Interpretation könnte allerdings auf die