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Moses Mendelssohn und die Aufgabe der Philosophie / von Heinrich Kornfeld
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schauungen versetzen zu können, 1 ) und aus diesem Fehlen jedweden historischen Sinnes ergiebt sich das Unvermögen, ethische Organismen in ihrem allmählich herausgebildeten Wesen und Zusammenhänge zu verstehen. 2 ) Damit hängt aufs Engste der Hauptmangel dieser Epoche zusammen: ihr ist der Begriff der Entwicklung 3 ) völlig abhanden gekommen, den noch Leibnitz so energisch betont hatte und den dann wieder in unserem Jahrhunderte Schelling und der im Grunde auf ihn zurückgehende Darwinismus in den Vorder­grund gestellt haben.

Aus der vollkommen individualistischen Denkrichtung quillt ferner der Mangel an Kritik, welcher die Untersuchungen nur bis zu einem bestimmten Punkte gedeihen läßt und dann in selbstzufriedener Beschränkung mit einem "lgno-

1 ) Den besten Beleg bildet Mendelssohns »Phaedon« und die ihm vor­

angehende Lebensbeschreibung des Sokrates. Man vergleiche: Kampe, Der mendelssohnsche Phaedon in seinem Verhältniß' zum platonischen, J. D., Halle 1880. Ueberdies sind Hegel und besonders auch Michelet von diesem Fehler durchaus nicht frei; aus demselben Grunde fehlt allen solchen Männern das Verständnis für die künstlerische Empfindungsweise.

3 ) Mendelssohns »Jerusalem« ist ein treffendes Beispiel hierfür, obwohl die dort aufgestellten Sätze über Staats- und Kirchenrecht Kants schwerwiegende Billigung erhalten haben. (Rosenkranz XI, 1, 17 .)

3 ) »Ich für mein Teil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechtes, die sich mein verewigter Freund Lessing von, ich weiß nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit hat einbilden lassen. . . . Der Fortgang ist für den einzelnen Menschen. . . .« (Mendelssohns »Jerusalem«. Ges. Schr. III, 317.)

»Nicht die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes ist die Absicht

der Natur; nein ! die Vervollkommnung des Menschen, des Individuums.-

Ginge das menschliche Geschlecht in der Vervollkommnung immer weiter, so würden die neuen Ankömmlinge keine Gelegenheit finden, ihre Kräfte zu üben, ihre Anlagen zu entwickeln; und dieses ist doch gleichwohl der wahre Zweck der Natur.« Mendelss. ges. Schr. V., S. 598. (Brief Mendelssohns, an den Etatsrat Hennings in Kopenhagen vom 25. Juni 1782.)