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Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
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Renaissance zuneigten. In der monumentalen, aber etwas nüchternen Börse (1859 bis 1864) hat diese Kunstrichtung ein würdiges Denkmal hinterlassen, während er in der Reichsbank (1877) weniger streng am Geschichtlichen blieb und daher auch ein leben­digeres Werk schuf. Einzelne Architekten sahen es überhaupt immer mehr ein, daß die modernen großen Bauausgaben und die neuen Baustoffe und Konstruktionen nicht mehr eine allzu strenge Anwendung geschichtlicher Formen erlaubten, waren die großen Neubauten des Lehrter und des Potsdamer Bahnhofes noch versuche, gewaltige

eiserne Hallenbauten mit solchen For­men zu umkleiden, so zeigte der in seiner Wirkung eindrucksvolle An­halter Bahnhof von Sc hwechten (geb. 1844) die überzeugende Wucht großer Architekturmassen auch ohne ängstliche Rückversicherung mit der Stilgeschichte. Das größte und monu­mentalste Denkmal dieser Zeit ist je­doch das Berliner Rathaus von Wäsemann (1813187ß), dem leider die alte Gerichtslaube (S. 41) zum Opfer fiel (Abb. 136). Das grandiose Bauwerk hat nicht überall Anerkennung gefunden; man hat an den schweren Formen, an der Farbe und dem Verhältnis einzelner Teile zu kritisieren gehabt; wer indessen mit vorurteilslosem Auge diesen, mit sei­nem satten Rot inmitten reichbelebter, aber architektonisch unbedeutender Straßen sich erhebenden Bau auf sich wirken läßt, wird dem Schöpfer zu­billigen, daß er für die erste und ernst­arbeitende Großstadt eine selbst­bewußte, starke Sprache gefunden hat. Berlin hat durch diesen Bau nicht nur ein künstlerisches Wahrzeichen, sondern ein Rathaus, das trotz aller engen Stilistik viel persönliche Eigenart zeigt.

Jedenfalls war das ehrliche Bestreben wäsemanns, aus der Umklammerung ge­schichtlicher Formen loszukommen, erfolgreicher als das Bestreben, der Kunst jeder Zeit und jedes Volkes in Berlin eine Heimstätte zu bieten. Versuche, aus solcher mechanischen Übertragung Anregungen zu gewinnen, endeten mit einer nur rein äußerlichen An­häufung trockener Formen, wie es die Neubauten des Zoologischen Gartens bezeugen, oder mit einem nicht immer heilsamen Kompromiß zwischen toten Formen und neuen Bedürfnissen. Das hervorragendste Denkmal dieser Bestrebungen ist die Neue Synagoge

Abb. 136. Rathaus. Von Wäsemann.

Nach einer Heliogravüre von Dittmar Schweitzer.