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Renaissance zuneigten. In der monumentalen, aber etwas nüchternen Börse (1859 bis 1864) hat diese Kunstrichtung ein würdiges Denkmal hinterlassen, während er in der Reichsbank (1877) weniger streng am Geschichtlichen blieb und daher auch ein lebendigeres Werk schuf. Einzelne Architekten sahen es überhaupt immer mehr ein, daß die modernen großen Bauausgaben und die neuen Baustoffe und Konstruktionen nicht mehr eine allzu strenge Anwendung geschichtlicher Formen erlaubten, waren die großen Neubauten des Lehrter und des Potsdamer Bahnhofes noch versuche, gewaltige
eiserne Hallenbauten mit solchen Formen zu umkleiden, so zeigte der in seiner Wirkung eindrucksvolle Anhalter Bahnhof von Sc hwechten (geb. 1844) die überzeugende Wucht großer Architekturmassen auch ohne ängstliche Rückversicherung mit der Stilgeschichte. Das größte und monumentalste Denkmal dieser Zeit ist jedoch das Berliner Rathaus von Wäsemann (1813—187ß), dem leider die alte Gerichtslaube (S. 41) zum Opfer fiel (Abb. 136). Das grandiose Bauwerk hat nicht überall Anerkennung gefunden; man hat an den schweren Formen, an der Farbe und dem Verhältnis einzelner Teile zu kritisieren gehabt; wer indessen mit vorurteilslosem Auge diesen, mit seinem satten Rot inmitten reichbelebter, aber architektonisch unbedeutender Straßen sich erhebenden Bau auf sich wirken läßt, wird dem Schöpfer zubilligen, daß er für die erste und ernstarbeitende Großstadt eine selbstbewußte, starke Sprache gefunden hat. Berlin hat durch diesen Bau nicht nur ein künstlerisches Wahrzeichen, sondern ein Rathaus, das trotz aller engen Stilistik viel persönliche Eigenart zeigt.
Jedenfalls war das ehrliche Bestreben wäsemanns, aus der Umklammerung geschichtlicher Formen loszukommen, erfolgreicher als das Bestreben, der Kunst jeder Zeit und jedes Volkes in Berlin eine Heimstätte zu bieten. Versuche, aus solcher mechanischen Übertragung Anregungen zu gewinnen, endeten mit einer nur rein äußerlichen Anhäufung trockener Formen, wie es die Neubauten des Zoologischen Gartens bezeugen, oder mit einem nicht immer heilsamen Kompromiß zwischen toten Formen und neuen Bedürfnissen. Das hervorragendste Denkmal dieser Bestrebungen ist die Neue Synagoge
Abb. 136. Rathaus. Von Wäsemann.
Nach einer Heliogravüre von Dittmar Schweitzer.