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Je mehr es mit den Liebhaberorchestern abwärts geht, um so breiter wird die Stellung der Chorvereine. Das OolloKium musioum des Domorganisten Hayne, das sich über ein Menschenalter hindurch halten konnte, blieb zunächst ohne Nachfolge. Noch einmal rafften sich die Singechöre der Gymnasien aus und stellten sich an die Spitze des vokalen Konzertlebens. Die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hindurch veranstalten die Kantoren in den Berliner Kirchen zahlreiche geistliche Konzerte, deren Ausführung und Programme die Bewunderung der Zeitgenossen erzwangen. Namentlich zwei Nkänner wirkten hier mit außerordentlicher Hingabe und Willenskraft, der St. Petrikantor Rudolf Dietrich Buchholz und der Musikdirektor Johann GeorgGottliebLehmann, Organist an der St. Nikolaikirche. Daneben sollen Christian Karl Rolle, Kantor an der Jerusalems- und der Neuen Kirche, und Johann Christoph Kühn au, Kantor an der Dreifaltigkeitskirche und Herausgeber eines hochgeschätzten Choralbuches, nicht vergessen werden. Diese Kirchenkonzerte, die hauptsächlich an den Feiertagen stattfanden, übermittelten dem Publikum die Bekanntschaft ausgezeichneter geistlicher Musik; besonders Hasse, Graun und Händel genossen eine liebevolle pflege. Grauns Passionsoratorium „Der Tod Jesu" ist in der Folge gleichsam das musikalische Wahrzeichen Berlins geworden; seitdem es 1755 zum erstenmal durch den Hofkapellmeister Agricola im Dom in Gegenwart des ganzen Hofes aufgeführt wurde, ist es alljährlich am Karfreitag zunächst in den Kirchenkonzerten und den Veranstaltungen der Liebhabervereinigungen, dann im Rahmen der Singakademie durch 130 Jahre vorgetragen worden. Erst seit 1884- läßt die Singakademie an seine Stelle Bachs Matthäuspassion treten. Auch Händel ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, namentlich mit dem „Judas Makkabäus" dauernd auf dem Berliner Spielplan gewesen; der „Judas Makkabäus" erlebte im Jahre 1774 in Berlin seine erste deutsche Aufführung. Den „Messias" führte Johann Adam Hiller, der Leipziger Thomaskantor, in Berlin ein. Mit außerordentlichen Mitteln veranstaltete er am ly. Mai 1786 eine Aufführung im Dom; 200 Musiker im Orchester, meistens Dilettanten, sämtliche Chorschüler der Berliner und Potsdamer Schulen nebst 150 Herren und Damen und die Solisten der Königlichen Oper wirkten mit. Fasch, der fünf Jahre später die Singakademie gründete, saß bei dieser Riesenveranstaltung am Cembalo.
Neben jenen Männern wirkte der Königliche Kapellmeister Johann Friedrich Reichardt, den die unbefriedigende Stellung an der Italienischen Oper der Konzertmusik in die Arme trieb. In den Jahren 1783 und 1784 veranstaltete er in den Fastenwochen im ganzen zwölf „Oonoorts spirituols", die die Dilettanten freilich auch nicht ganz entbehren konnten, aber doch hauptsächlich von Berufsmusikern, namentlich den Mitgliedern der beiden Opern bestritten wurden. Mit großem Zielbewußtsein arbeitete Reichardt an der musikalischen Erziehung des Publikums; es war das erstemal, daß ein Künstler den Hörern seinen Geschmack aufzwang und sich zu ihrem Herrn machte, statt ihrem Vergnügen zu dienen. So lernten die Berliner neben zahlreichen Kompositionen des Konzertgebers Leonardo Leo, Niccolo Jomelli, philidor und Dittersdorf kennen; fast nie fehlte eine Sinfonie von Haydn. Mozart freilich kam nicht zu Wort; auf ihn war Reichardt nicht gut zu sprechen. Als erster erkannte Reichardt, daß das Publikum zum Verständnis ungekannter Musikstücke einer taktvollen programmatischen