Teil eines Werkes 
Teil 1 (1920) Die Grundlagen der jüdischen Ethik
Entstehung
Seite
59
Einzelbild herunterladen

Reinheit der Seele

Mein Gott, die Seele, die du mir gegeben hast, ist rein. Das ist das Bekenntnis, das der Jude im täglichen Morgengebet vor Gott ablegt. Gott hat den Menschen nicht sündhaft geschaffen. Der Mensch ist rein geschaffen worden, mit Hoheit und Würde hat Gott ihn gekrönt, um ein Geringes steht er Gott nach (Ps. 8), er ist im Eben­bilde Gottes geschaffen worden. Alle Menschen tragen daher einen Funken göttlichen Feuers in sich, wenn er auch bei manchen durch Sünde, durch ererbtes Laster oder Verderbnis verdunkelt wird. Aber die von Gott geschaffene Seele, durch welche der Mensch gottähnlich ist, ist rein erschaffen. Der Sünder hat durch freie Wahl die Sünde erwählt.

Hier setzt die Lehre des Christentums ein. Dieses lehrt: Als der erste Mensch eine Sünde begangen hatte, ward sie ihm zur unbezwing­baren Naturanlage, und alle von ihm abstammenden Menschen sind mit dieser untilgbaren Sünde behaftet, sie müssen alle die Verdammnis und die Strafe tragen, die sie mit dem ersten Menschen, der aus freier Wahl gesündigt, trifft. Sie sind aus sich unfähig, die Sünde nebst der Strafe zu beseitigen, sie müssen durch einen andern, durch denErlöser, davon befreit werden.

Auch das Judentum hat sich mit der Geschichte von dem Un­gehorsam, welchen Adam, der erste Mensch, sich zuschulden kommen ließ, auseinandergesetzt. Aber von einer nun nicht mehr zu bewäl­tigenden Erbsünde, ja selbst von dem Tode, der nun erst als Strafe wegen der Sünde für die Menschen bestimmt worden sei, ist im Judentum nicht im entferntesten die Rede. Das Judentum macht aus dieser Erzählung nicht mehr, als wofür sie sich selbst gibt. Es suchte nicht in ihr, noch schloß es aus ihr eine Lösung für die Rätsel der menschlichen Natur.

Es legt nach wie vor dem Menschen die Fähigkeit bei, aus freier Wahl das Gute zu ergreifen und zu üben, und legt ihm dazu auch die Verpflichtung auf. Es erkennt auch die in dem sinnlich angelegten Menschen vorhandene Neigung zur Sünde, behauptet jedoch, daß er sie in sich bezwingen könne, verlangt dies von ihm und legt ihm

59