Teil eines Werkes 
Teil 1 (1920) Die Grundlagen der jüdischen Ethik
Entstehung
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Willensfreiheit

Die Grundbedingung der Sittlichkeit ist die Willensfreiheit, die Selbstbestimmung des Menschen im Tun und Lassen, die freie Wahl, das Gute zu wollen und zu tun, das Böse in Gesinnung und Tat zu meiden. Diese Willensfreiheit lehrt das Judentum. Äuf ihr beruht die sittliche Verantwortlichkeit, von der der vernunftbegabte Mensch geleitet und getragen sein soll. Das Judentum kennt nicht die Lehre von der Erbsünde, von der unbesiegbar sündhaften Natur im Menschen und auch nicht die Lehre von der Gnadenwahl oder die vom unent­rinnbaren Fatum.

Die Lehrer des Judentums waren sich allerdings schon in früher Zeit darüber klar, daß diese Lehre von der sittlichen Freiheit vielfach mit den Erscheinungen und Erfahrungen des Lebens im Widerspruch steht. Wie das Tun des einzelnen auf die Geschicke der menschlichen Gesellschaft zum Guten wie zum Bösen von bestimmendem Einfluß sein kann, so steht der einzelne unter dem bestimmenden Einfluß seiner Umgebung und seiner Volksgemeinschaft und unter der Wir­kung der Vergangenheit. Än den Sünden der Eltern tragen auch ihre Kinder und Kindeskinder, wie anderseits das tugendhafte Leben der Eltern den Kindern zum Segen werden kann. Äber diese Erfahrung soll nach der Lehre des Judentums Gemeinschaften und Individuen nicht den sittlichen Willen lähmen, daß sie sich untätig dem Ver­hängnis überlassen, sondern eine Mahnung an die Menschen zu einem sittlichen und gerechten Lebenswandel um so mehr sein, als ihr Tun auf Mitwelt und Nachwelt weiterwirkt. Die Folgen eures Tuns, ruft das Judentum allen zu, tragt nicht nur ihr selbst, sondern trägt die Gesamtheit, und tragen die späteren Geschlechter. Doch ist ihnen der Weg zum Guten ebensowenig verschlossen, wie ihnen das Verdienst der Vorfahren einen Freibrief für eigenen verwerflichen Wandel gibt. Dieser für die Sittlichkeitslehre bedeutungsvolle Gedanke wird be­sonders von Ezechiel mit voller Schärfe betont.

Mit dem Problem der sittlichen Freiheit und der an diese ge­knüpften sittlichen Verantwortung des Menschen hat sich auch das nachbiblische Judentum sehr ernsthaft beschäftigt. Äuch die Parteien,

5 Die Lehren des Judentums.

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