Teil eines Werkes 
Teil 1 (1920) Die Grundlagen der jüdischen Ethik
Entstehung
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3: Ein nicht geringer Irrtum freilich würde es sein, wenn man an­nehmen würde, der Vergeltungsgedanke sei von diesen Pro­pheten (Jeremia und Hesekiel) erfunden und Hesekiel sei demnach der Schöpfer desIndividualismus. Vielmehr haben sie diese Ideen nur formuliert. Denn wie in jedem höher entwickelten Volke, so hatten auch im alten Israel Religion und Sittlichkeit seit langem einen Bund geschlossen. Hermann Gunkel: Was bleibt v. A. T.?, 1916, S. 81/2.

4: Dreierlei ist es, das Ezechiel um jeden Preis sichern will: a) Jeder Sünder wird in sichtbarer Weise und durch äußeres Ergehen bestraft, jeder Gerechte belohnt, b) Niemals wird ein Individuum in das Verderben oder in das Heil eines andern hinein­gezogen. c) Entscheidend ist stets nur der ethisch-religiöse Zu­stand des letzten Augenblicks. Ezechiels Theorie bedeutet einen Höhepunkt, zugleich aber auch einen Wendepunkt in der Ge­schichte des Vergeltungsglaubens. So klar, ohne jegliche Ein­schränkung, so streng individualistisch, so gänzlich auf das Dies­seits bezogen, wird das Vergeltungsdogma nur von ihm aufgestellt. Man muß dabei vor allem der Tatsache gerecht werden, daß diese Theorie die schroffste Anwendung einer hohen sittlichen Überzeugung darstellt; ist sie doch nichts andres als die individualistische Anwendung des von den Propheten vertretenen Glaubens an eine sittliche Weltordnung. Diesen Glauben dem Judentum ein für allemal eingepflanzt zu haben, ist nicht zum mindesten das Verdienst Ezechiels. . . . Nirgends aber wird das Postulat dieser Gerechtigkeit mit solcher Energie festgehalten wie im Judentum. Allen widersprechenden Erfahrungen zum Trotz steht Ezechiels Theorie absolut fest. Justus Köberle: Sünde und Gnade, 1905, S. 218/19.

5: Allgemein gewöhnte man sich, den Zusammenhang von Verhalten und Ergehn stets nur unter diesem ethischen Gesichtspunkt (der gerechten göttlichen Vergeltung) zu betrachten. Die ganze Weltanschauung war so auf einem ethischen Grundgedanken aufgebaut. Sie erhielt dadurch eine sonst nicht vorhandene Festigkeit und Bestimmtheit, in welcher sich das Judentum hoch über die Gleichgültigkeit und das In-den-Tag-Hinein- leben der meisten Völker ähnlicher äußerer Kultur erhob. Ebenso aber bewahrte dieser sittliche Grundsatz vor der Resignation und dem kraftlosen Pessimismus, in welchen bei andern höher-

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