Teil eines Werkes 
Teil 1 (1920) Die Grundlagen der jüdischen Ethik
Entstehung
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Gleichheit aller Menschen

Die Ethik des Judentums wird beherrscht vom Prinzip des Universalismus, d. h. sie kennt in ihren Forderungen und Vorschriften keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden. Was sie befiehlt, gilt schlechthin; die Scheidung der Menschen nach Abstammung und Glauben ist für sie bedeutungslos. Es hieße die jüdische Sittlichkeits­lehre nicht nur herabwürdigen, sondern völlig verkennen, wollte man annehmen, sie lege den Geboten der Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe eine größere Verbindlichkeit bei, wo es sich um Juden unter­einander handelt, als wo die Ansprüche Andersgläubiger Berück­sichtigung verlangen.

Wie bei der sittlichen Verpflichtung, so macht das Judentum auch hinsichtlich der Eignung zur Sittlichkeit keinerlei Unterscheidung zwischen Menschen und Menschen. Der Mensch als solcher ist sowohl Objekt als Subjekt der Sittlichkeit. Alle Erdenkinder sind zugleich Gotteskinder, fähig und berufen, das Gute zu verwirklichen und seine Herrschaft in der Welt immer mehr zu befestigen. Die sittliche Anlage ist jedem Menschen angeboren, es liegt ihm ob, sie im Kampf mit seinen Trieben und Begierden zu immer größerer Macht aus­zubilden.

Der grandiose Ausdruck dieser Anschauung vom sittlichen Beruf aller Menschen ist die Messiaslehre des Judentums geworden, jene Zukunftshoffnung, die auf ihrer höchsten Stufe unter dem Bilde des Gottesreiches auf Erden die Versittlichung der Völker und Nationen als Endziel der Menschheitsentwicklung schaut.

Der Gedanke der Auserwählung Israels, der auf den ersten Blick der Lehre von der sittlichen Gleichwertung aller Menschen zu wider­streiten scheint, ordnet sich ihr bei näherer Betrachtung vielmehr unter: Israel hat das ist der tiefste Sinn seiner Begnadung durch Gott die Aufgabe, beispielgebend auf die übrige Menschheit ein­zuwirken; es soll sein ethisches Gut nicht für sich behalten, sondern allen Völkern mitteilen, auf daß sie aufsteigen zu immer höherer Gesittung.

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