Erkenntnis und Sittlichkeit
Das Judentum lehrt, daß das Wissen, wenn auch nicht die Quelle, so doch ein mächtiger Hebel der Sittlichkeit ist. Stammen die ethischen Antriebe letztlich aus dem Gefühl, so werden sie doch geläutert, veredelt und in die rechten Bahnen gelenkt durch Reflexion und Belehrung. Erst die Einsicht in den Zweck und die Bestimmung des Lebens schützt vor Verirrungen des sittlichen Gefühls; erst die Kenntnis des Möglichen und Erreichbaren verhindert, daß die sittliche Kraft aus Unkenntnis der realen Bedingungen des Lebens sich in Nutzlosigkeiten erschöpft; erst die Fähigkeit der Beurteilung sittlicher Dinge verhütet, daß bei Konflikten die minder wichtige Pflicht vor der dringenderen den Vorzug erhält.
Die Bemühungen, durch vernünftige Überlegung über die Fragen der Sittlichkeit zur Klarheit zu gelangen, führen ferner dazu, daß die einzelnen sittlichen Handlungen des Menschen sich in einen organischen Zusammenhang einordnen: die Erfüllung einer Pflicht bleibt nicht mehr der jedesmaligen Aufwallung des Gefühls überlassen, sondern sie fließt aus dem bewußten Streben, das ganze Leben sittlich zu gestalten. Das Wissen macht aus der Kette sittlicher Taten ein einheitliches Lebenswerk, es bringt Zwiespalt und Gegensätzlichkeit, wie sie sich aus den Anlässen verschiedener Zeiten und Situationen ergeben, zum Ausgleich, es führt zu sittlichen Grundsätzen, zum sittlichen Charakter. Der sittliche Charakter oder die zur inneren Einheit gewordene ethische Persönlichkeit ist die oberste Stufe der sittlichen Entwicklung des Menschen; auf ihr vereinigen sich Lebendigkeit des Gefühls und Festigkeit des Willens mit der Klarheit der Erkenntnis. Weit entfernt, durch die Betonung des ethischen Wissens die sittliche Tat zur kalten Verstandesangelegenheit zu machen oder zu einem Akt der Berechnung herabzumindem, weist das Judentum vielmehr dadurch die Wege zum Aufstieg bis zur höchsten Höhe wahrer Menschlichkeit.
Samson Hochfeld
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