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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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Kant überall

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einer als erstarrt empfundenen religiösen Tradition. Dieser Aufbruch war um 1820 längst vollzogen. Im Mittelpunkt der neuen Wissenschaft des Judentums stand die histori­sche und historisierende Sammlung und Erforschung der Literatur und der anderen Quellen jenes rabbinischen Ju­dentums, dessen Normen und Lebensweise die jüdischen Aufklärer in Berlin, Kantianer und Nichtkantianer, kriti­siert und zu überwinden gesucht hatten.

6. Kant überall

Unter dem Einfluß Kants wechselt das philosophische Paradigma der jüdischen Aufklärung. Die zweite Genera­tion der Maskilim setzt sich fast ausschließlich aus Kan­tianern zusammen, deren Texte und Argumentation nicht mehr an die theistische Schulphilosophie Mendelssohns anschließen. Das hat Veränderungen in zumindest drei philosophischen Bereichen zur Folge:

1) In der Geschichtsphilosophie teilen die jungen Mas­kilim den Fortschrittsoptimismus Kants, nicht die Skepsis Mendelssohns. Fortschritte in der herrschenden Moralität durch Autonomie werden teils als Schritt zur ebenfalls fortschreitenden bürgerlichen Verbesserung der Juden, teils als deren zwangsläufige Folge interpretiert. 264

2.) In der Ethik gilt das Prinzip der Autonomie, die in Theorie und sozialer Praxis gegen die strikte Halacha- Observanz ins Feld geführt wird. Nicht nur als Ursache der Erstarrung und der Rückständigkeit, sondern auch im Namen der Autonomie wird die Halacha kritisiert, die Mendelssohn trotz Aufklärung unangetastet lassen wollte. Mendelssohn hatte keine eigene, systematische Ethik ent­wickelt; vermutlich, weil er keine brauchte, denn die Ha­lacha regelte d^s jüdische Alltagsleben. 265 Auch bei den Maskilim der zweiten Generation gibt es keinen, der das Judentum und seine religiösen Gebote glatt durch eine kantische Autonomie-Ethik ersetzen will. Aber Autonomie