170 Kant und die jüdische Aufklärung
als Leitfaden veränderter, verbürgerlichter und konfessio- nalisierter jüdisch-religiöser Lebensweise mit einer reduzierten Zahl von Geboten, neuen Gebetbüchern und Riten wird der Gegenentwurf zu der als starre Heteronomie empfundenen rabbinischen Tradition. In dieses Umfeld gehören die pädagogischen und wissenschaftlichen Versuche der jüdischen Kantianer Lazarus Bendavid 266 und Isaak Euchel, die die Reformen in den jüdischen Gemeinden und Schulen Berlins und Preußens weitertrieben.
3) In der Religionsphilosophie schließlich, die nach Kants Metaphysik-Kritik nötig wird, 267 wird ein Rekurs auf Mendelssohns «ewige Wahrheiten» wie die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele erst gar nicht mehr versucht und statt dessen das Judentum als eine vom Talmud befreite, aufgeklärte Religion mit Glaubensartikeln dargestellt. Die Religionsphilosophie hat kein Wissen von metaphysischen Wahrheiten mehr, Religion ist Glaubenssache. Eine durch Kants Kritiken gegangene jüdische Religionslehre hat, mit Kants eigenen Worten, zum Glauben Platz bekommen.
Woher rührte das philosophische Interesse der jungen Maskilim an Kant, das sie von Mendelssohn wegführte? Diese Frage ist, zumal angesichts der großen Anzahl von Kantianern und Neukantianern im deutschen Judentum des 19. und zo. Jahrhunderts, ja einer beinahe verwandtschaftlichen Identifikation mit Kant im deutschen Judentum wie z. B. bei Hermann Cohen, oft und immer unterschiedlich beantwortet worden. 268 Kants Kritiken führten, von ihm ungewollt, einen Wechsel im Denken der Has- kala herbei. Es gibt sowohl philosophische als auch soziale und politische Gründe für diesen Wechsel, die individuell verschieden gewichtet werden müssen. Eine einzige, i generalisierende Antwort ist nicht möglich.
In jedem Fall war die Kant-Rezeption in jüdischen Kreisen Berlins so stark, daß Kant ungeachtet zahlreicher judenfeindlicher Äußerungen innerhalb weniger Jahre zum jüdischen Populärphilosophen aufrückte. Auch etliche 1