Kant überall
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Berliner Jüdinnen, die mit ihren Salons zwischen 1780 und 1806 die Berliner Kulturlandschaft prägten, 269 führten Kant im Munde. Gewiß sind die judenfeindlichen Polemiken und Satiren mit Vorsicht zu lesen, die genau dies lächerlich machen. Aber sie bezeugen in der Übertreibung, daß Kant und Berliner Juden bis ins populäre Vorurteil hinein in Verbindung gebracht wurden. In den antijüdischen Akkulturationspolemiken christlicher Autoren, die die jüdische Akkulturation karikieren, parlieren jüdische Salondamen über «transzendente Philosophie», den «kategorischen Infinitiv» 270 oder «cacagorischen Ambara- dif». 271 Aber hinter solcher Karikatur steckt die Tatsache, daß Kant etwa im berühmten Salon der Henriette Herz, der Ehefrau von Markus Herz, eine feste Größe war. Es sind Berliner Jüdinnen unter den ersten Frauen, die überhaupt Kants Werke oder zumindest seine Terminologie rezipierten, wie ein humoristisches Zeugnis der Kant-Rezeption unter Jüdinnen zeigt, das 1798 anonym erschien: «Ganz besonders ist nun die kritische Philosophie das goldene Kalb, das sie [die Berliner Jüdinnen] anbeten; eine Kantianerin zu werden ist ihr höchster Wunsch und dafür zu gelten ihre größte Eitelkeit. Kant auf der Zunge, Kant auf ihrer Toilette und auf dem Nachttische wetteifert mit ihrem ersten Liebhaber, und der kategorische Imperativ steht mit ihnen auf und geht mit ihnen zu Bette [• • •] Die Erscheinung des Messias könnte keine größere Sensation unter ihnen bewirken, als auch nur die eines Afterkantianers, der, selbst verrückt, ihr transzendentales Hirngespinst noch vergrößert.» 272
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