188 Die Erfindung der Orthodoxie
rende Modulation derselben alten Ideen zu sein. Radikaler Wandel ist selten, Erfindungen noch seltener. Im Fall des Leviathan kann man jedoch eine beachtenswerte Erfindung genau datieren: Saul Ascher ist der erste Autor, der ein Konzept des «orthodoxen» Juden entwickelt. Ein orthodoxer Jude, so Ascher, ist ein Jude, der sich jeder Veränderung oder Reform des traditionellen, halachischen Judentums widersetzt. Es gebe aufrichtige und kluge Männer unter den Orthodoxen, gesteht Ascher zu, aber sie verteidigen die Prinzipien der «Theokratie» im Judentum gegen das Streben nach politischer Gleichberechtigung, bürgerlicher Verbesserung und moralischer Autonomie bei aufgeklärten Juden. 291
Was beim Gebrauch der Worte «orthodox» und «Orthodoxie» auffällt, ist die Tatsache, daß dies ursprünglich christliche Begriffe sind. Vor dem 18. Jahrhundert sind sie nie auf Juden bezogen worden. «Orthodoxia» ist ein griechischer Begriff, der wörtlich «rechter Glaube» bedeutet. Orthodoxie wurde zuerst von den orthodoxen Ostkirchen für sich in Anspruch genommen. In Deutschland und in der deutschen Sprache wurde Orthodoxie zur Bezeichnung der Lutherischen Orthodoxie gebraucht, die im späten 16 . Jahrhundert entstand und im 17. Jahrhundert in den deutschsprachigen protestantischen Ländern und in Skandinavien ihre Blütezeit erlebte. 292 Im Namen religiöser Toleranz kämpfte die deutsche Aufklärung des 18. Jahrhunderts gegen die Lutherische Orthodoxie und deren Anspruch auf eine homogene, stets auf Luthers Theologie bezogene und an diese gebundene Einheit von Staat, Kirche, Gesellschaft und Kultur. Lessing wehrte sich gegen die «Orthodoxie» bei der Veröffentlichung der Reimarus-Fragmente, 293 Kant unterschied sogar zwischen «liberaler» und «despotischer» oder brutaler» Orthodoxie. 294 Aber sowohl Lessing als auch Kant bezogen sich selbstverständlich auf die protestantische Theologie.
Der Hebraist und Theologe Johann David Michaelis war der erste Aufklärer, der den Begriff «orthodox» auf